Schmerztherapie: Mechanismen- statt Stufenmodell

21. Österreichische Schmerzwochen: Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) rät Ärzt*innen dazu, bei der Behandlung vermehrt nach Schmerzart statt nur nach Schmerzstärke vorzugehen. Mechanismen-orientierte Ansätze in der Schmerztherapie scheinen das etablierte „Stufenschema“ der WHO abzulösen.

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Wann sind welche Schmerzmedikamente sinnvoll? „Jüngere Daten und Fachpublikationen weisen immer stärker in die Richtung, dass wir für diese Entscheidung mehr auf die Schmerzursache achten müssen und weniger starr nach Schmerzstärke vorgehen sollten“, sagt ÖSG-Präsiedentin OÄ Dr. Waltraud Stromer anlässlich der 21. Österreichischen Schmerzwochen der ÖSG.

Seit 1986 bietet das regelmäßig adaptierte (zuletzt 2019) „Stufenschema“ der Weltgesundheitsorganisation WHO Ärzt*innen weltweit Orientierung für die Wahl des geeigneten Analgetikums bei Tumorschmerzen. Obwohl es von der WHO dafür keine Empfehlung gibt, wurde es auch für das Schmerzmanagement von nicht-tumorbedingten akuten und chronischen Schmerzen angewandt.

Das Stufenschema teilt Schmerzen vorwiegend nach ihrer Intensität in drei Stufen ein. Für Stufe 1 empfiehlt die WHO Nicht-Opioidanalgetika, für Stufe 2 schwache Opioide plus Nicht-Opioidanalgetika und für Stufe 3 starke Opioidanalgetika plus Nicht-Opioidanalgetika. Reichen die jeweiligen Schmerzmedikamente nicht aus, um die Schmerzen der aktuellen Stufe zu lindern, wird zur nächsten übergegangen.

„Das WHO-Stufenschema ist nach Meinung zahlreicher Schmerzexpert*innen nicht mehr zeitgemäß. Als neue Orientierungshilfe für die Behandlung akuter wie chronischer Schmerzen sollte ein Mechanismen-orientiertes Modell dienen“, unterstreicht Dr. Stromer. Für die Therapiewahl ist demnach die Art der Schmerzen entscheidend:

  • nozizeptive Schmerzen, die durch Gewebeverletzung bedingt sind
  • neuropathische Schmerzen, die durch eine Schädigung oder Dysfunktion des peripheren und/oder zentralen Nervensystems entstehen
  • noziplastische Schmerzen, die keiner spezifischen strukturellen Läsion oder Anomalie zuzuordnen sind
  • „Mixed Pain“, bei dem sowohl nozizeptive als auch neuropathische und/oder dysfunktionale Komponenten das Schmerzgeschehen beeinflussen, etwa Rückenschmerzen oder Tumorschmerzen

Die ÖSG-Präsidentin betont, dass das neue Modell eine wichtige Orientierungshilfe für den Weg zur optimalen Schmerztherapie ist, aber keine konkrete Behandlungsanleitung darstellt.

Schmerzmitteln kombinieren

Das Mechanismen-orientierte Modell erlaubt es, mehrere Substanzen in Kombination einzusetzen. „Jede Schmerztherapie muss individuell an die Patient*innen angepasst werden. Dazu ist es unbedingt notwendig zu beurteilen, ob sie Responder auf ein Medikament sind, also das Therapieziel deutliche Schmerzlinderung mit keinen oder geringen Nebenwirkungen erreichen können“, sagt ÖSG-Vorstandsmitglied OA Dr. Wolfgang Jaksch von der Abteilung Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin in der Klinik Ottakring. Sind die Schmerzen neuropathisch oder haben eine neuropathische Komponente, erfordert die Therapie zumeist eine Kombination unterschiedlich wirksamer Medikamente. „Es gibt leider kein Präparat, das nozizeptive und neuropathische Schmerzkomponenten gleichermaßen reduzieren kann. Daher muss auch hier oft mit Medikamentenkombinationen gearbeitet werden“, erklärt Dr. Jaksch. Bei neuropathischen Schmerzen können bestimmte Antidepressiva, Antikonvulsiva aber auch lokale Therapieformen zusammen zur Anwendung kommen. Weiters spricht für die Kombination von Substanzen, dass ein einziges Schmerzmittel meist nicht ausreicht, um chronische Schmerzen wirksam zu lindern und hohe Einzeldosen oft schlecht vertragen werden.

Einsatz von Opioiden

Opioide sind im Rahmen eines multimodalen Ansatzes und in Kombination mit anderen Therapieoptionen unverzichtbar für die Behandlung akuter wie chronischer Schmerzen. Aber auch bezüglich der Opioidgabe gilt das WHO-Stufenmodell nur mehr eingeschränkt. Das Modell gibt vor, bei mittlerer Schmerzstärke ein schwaches Opioid und bei starken Schmerzen ein starkes Opioid zu verwenden. „Da heute eine viel größere Palette an Opioid-Präparaten mit geringen Dosierungen zur Verfügung steht, müssen wir in der klinischen Praxis nicht erst die unzureichende Wirksamkeit der Stufen 1 und 2 abwarten, um Substanzen der Stufe 3 einzusetzen. Speziell für Patient*innen, deren Organe geschwächt sind oder die bereits viele unterschiedliche Medikamente einnehmen müssen, kann es effektiver und sicherer sein, mit stärker wirksamen Opioiden in geringster Dosierung zu beginnen“, sagt Dr. Jaksch. Bei der Auswahl des geeignetsten Opioids müssen zudem noch mehr Faktoren berücksichtigt werden: „Etwa die Komorbiditäten der Patient*innen, die Nebenwirkungen des Opioids und allfällige Kontraindikationen und auch wie die Substanz in den Körper gelangen soll.

Bericht: Dr. Stefan Wolfinger

Erscheint in den Schmerz Nachrichten 1/2022


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