Den Menschen ergänzen: Künstliche Intelligenz in der Pflege


von Ass.-jur. Michael Irmler, Praxis für Konfliktarbeit und Mediation, Lehrinstitut am Ersberg, Nürtingen

erschienen in PROCARE 5/2023


Künstliche Intelligenz lernt in der interaktiven Begegnung ständig hinzu. Auch dieses Bild wurde übrigens mit Hilfe von KI erstellt.
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Künstliche Intelligenz (KI) ist eines der aktuellen Themen der Zukunft. Autonomes Fahren, selbstständig arbeitende Reinigungs- und Lieferroboter, aber auch Pflege- und Operationsroboter sind immer mehr im Kommen. Vielfach sträubt man sich gegen alles, was neu ist. Aber der Fortschritt ist nicht aufzuhalten — allemal besser ist also, mit der Zeit Schritt zu halten.

In vielen OP-Sälen findet man heute den Operationscomputer Da Vinci, aber bei ihm ist keine KI im eigentlichen Sinn verbaut. Das Gerät muss nämlich letztlich von einem Menschen bedient werden, quasi ferngesteuert wird operiert, aber immer noch durch die Handlungen eines Menschen.

Pepper kann nicht „denken“

In einigen Pflegeheimen, teilweise auch in Kliniken, ist bereits ein kleiner Roboter namens Pepper im Einsatz. Er ist in der Lage, Patient:innen körperliche Bewegungsübungen zu zeigen, er kann Schach spielen oder auch den Weg innerhalb eines Heims etwa für Gäste aufzeigen. Er ist bereits mit „einfacher“ KI ausgestattet und ein erster Schritt in Richtung humanoide Roboter. Pepper ist für seine Aufgabenbereiche entsprechend programmiert worden, kann also sich wiederholende Aufgabenstellungen immer wieder vornehmen, ist jedoch auch in der Lage, Menschen voneinander zu unterscheiden und damit lernfähig.

Pepper Robot
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KI im eigentlichen Sinne setzt auf das selbstständige Lernen eines Computersystems. Nach einer Grundprogrammierung ist ein solches System in der Lage, selbstständig, ohne das Zutun eines Menschen, dazuzulernen. Vereinfacht könnte man KI mit einem:einer Schüler:in vergleichen. Dieser lernt in der Schule immer wieder Neues, einiges wird er sich merken können, anderes vergisst er auch wieder, aber sein Wissen wird (hoffentlich) mit jedem Lerntag ein wenig größer. KI ist ebenso in der Lage, ihre Umwelt zu erfassen und damit ihr Wissen zu erweitern. Das „Problem“ am Ende des Tages ist, dass wir weder bei dem:der Schüler:in noch bei KI wissen, was die beiden tatsächlich gelernt oder was sie nicht verstanden, falsch verknüpft oder einfach sich nicht gemerkt haben. Es gibt auch keine Möglichkeit, das Gesamtwissen eines Menschen oder von KI abzufragen. Selbst der intelligenteste Mensch wird irgendwann an seine Grenzen kommen, nicht anders ergeht es KI.

Die Bedeutung von „Deep Learning“

Eng mit KI verknüpft ist der Begriff „Deep Learning“ oder maschinelles Lernen. Durch diese Technik wird ein System von sich aus immer schlauer, kann für immer mehr und immer komplexere Aufgaben eingesetzt werden. Der große Vorteil, den man sich von KI verspricht, ist damit die Selbstständigkeit, weswegen auch gerne der Begriff „autonom“ verwendet wird. Der Mensch muss nicht jede Funktion der KI in Gang setzen oder überwachen, sondern die Roboter werden dazu selbstständig in der Lage sein. Pepper dagegen ist im Vergleich zu KI noch relativ dumm. Man muss ihm sagen, was er machen soll, und dann macht er es. Mit echter KI ausgestattete Roboter sollen in der Lage sein, die unterschiedlichen Menschen kennenzulernen, sich ihre Bedürfnisse und Wünsche zu merken und ihnen ganz gezielt, persönlich zugeschnitten Hilfestellungen geben zu können. Solche Roboter können in bestimmten Situationen reagieren, ähnlich einem Menschen. Sie werden dann selbstständig entscheiden. Entsprechend dazu fähige Roboter sind bereits in der Entwicklung, teils sogar schon in Erprobung.

Was KI bewirken kann, erleben wir alle vermutlich tagtäglich. Wenn wir im Internet in Suchmaschinen bestimmte Begriffe eingeben, werden wir wenig später zu diesem Thema Werbung eingeblendet bekommen. Die Suchmaschinen meinen damit, unser aktuelles Interesse zu erkennen und nutzen dies aus. Auch die Autokorrektur unseres Smartphones basiert auf KI. Sie lernt die Schreibweise, die wir verwenden, und macht uns immer genauere Vorschläge — manches Mal, als wenn das Gerät Gedanken lesen könnte. Je öfter wir sie verwenden, desto besser wird sie, desto mehr kann sie dazulernen. Große Datenmengen sind also erforderlich, damit Künstliche Intelligenz gut funktioniert. Und gerade im Gesundheitswesen gibt es eine solche Masse an Daten, etwa Krankenakten und -bilder, Bevölkerungsdaten und Daten klinischer Studien.

KI bereits heute im Gesundheitswesen

KI ist bereits weiter verbreitet, als man zunächst zu glauben meint. Schon vor einigen Jahren hat IBM ein Programm namens Watson entwickelt, welches für unterschiedlichste Bereiche zum Einsatz kommen kann. Eine dieser Sparten ist IBM Healthcare und insbesondere in der Onkologie sind heute KI-Programme — natürlich auch von anderen Herstellern — im Einsatz. Müssen etwa Röntgenbilder nach Tumoren durchsucht werden, dann gelingt dies einem solchen Programm in einem Bruchteil der Zeit, die ein Mensch dafür benötigen würde. Eine echte Zeitersparnis, von der man sich erhofft, wieder mehr Zeit für den Patient:innen aufwenden zu können und das Gesundheitswesen insgesamt menschlicher zu machen. KI soll also nicht Menschen ersetzen und damit Personal einsparen, sondern die ohnehin im Gesundheitswesen stets knappen Ressourcen an Personal unterstützen — Routineaufgaben soll KI erledigen, empathische Gespräche mit Patient:innen sollen Menschen führen.

Langer Weg bis zur empathischen Reaktion

Durch KI, das ist die Hoffnung, werden Angehörige der Heilberufe wieder genügend Zeit haben, sich den Pflegeempfängern zuwenden zu können. Fließbandarbeit soll verringert und der Erhalt des selbstbestimmten Lebens, insbesondere auch im Alter, ermöglicht werden. So hat sich bereits ein Fachbegriff gebildet: Geriatronik. Damit wird der Einsatz von Robotik, Mechatronik und KI in der Lebensgestaltung und Versorgung älterer Menschen umschrieben. Nicht die Roboter pflegen, sondern die Pflegekräfte und Ärzt:innen, aber sie werden unterstützt von Robotern.

Diese Roboter kann man als eine Art „intelligenter Werkzeugkasten“ bezeichnen. Menschliche Kreativität, emotionale Intelligenz, Empathie und Kommunikation können derzeit noch nicht durch KI ersetzt werden. Aber erste Ansätze sind bereits zu erkennen, wonach auch Roboter empathisch werden reagieren können. Doch das wird noch ein weiter Weg sein.

Weit vorn: Japan

Eine ganze Reihe von Pflegerobotern wird gerade entwickelt, die mit echter KI ausgestattet sind. Führend auf diesem Gebiet ist Japan. Hier wurde u. a. ein „Care Assist Robot“ entwickelt, der dabei hilft, Patienten in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen aus dem Bett zu heben oder zur Toilette zu begleiten. Manche dieser Geräte sind mit KI in der Art ausgestattet, dass die Roboter Menschen an ihren Stimmen erkennen und mit ihnen kommunizieren können. Die Systeme lernen also selbstständig dazu und reagieren individuell verschieden bei den verschiedenen Pflegempfängern.

Aber auch in Deutschland schläft man nicht — in Garmisch-Partenkirchen wird beispielsweise ein Roboter namens Garmi entwickelt. Diesen Ort hat man wegen der dortigen Altersstruktur ganz gezielt gewählt, denn der Landkreis hat den höchsten Anteil an Senior:innen im Freistaat Bayern mit einem hervorragenden Netzwerk an ortsansässigen Ärzt:innen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Garmi ist als humanoider Roboterassistent für ältere Menschen konzipiert. Er unterstützt Senior:innen bei Aktivitäten des täglichen Lebens und kann eine:n Patient:in bei Rehabilitationsübungen physisch unterstützen bzw. sogar dem:der Arzt:Ärztin bei den ersten Schritten eines telemedizinischen Arztbesuches assistieren.

Pflegeroboter und Recht

Viele Fragen aus rechtlicher Sicht sind heute noch offen. Eines der großen Probleme ist die Frage, was passiert, wenn KI einen Fehler macht. Denn, wie beschrieben, lernt KI laufend dazu, ist also nie perfekt und damit ähnlich einem Menschen in der Lage, sich zu irren oder durch mangelndes Wissen Fehlentscheidungen zu treffen. Denken wir an einen Pflegeroboter, der selbstständig Patient:innen umlagern kann, damit diese keinen Dekubitus erleiden. Wenn er die Notwendigkeit eines Umbettens nicht erkennt, kann ein:e Patient:in geschädigt werden. Dass der Betreiber der KI vermutlich nicht haftet, ist heute bereits weit verbreitete Ansicht, denn der Mensch muss sich auf KI verlassen können. Müsste er jede Handlung von KI überwachen, könnte der Mensch die Handlungen gleich selbst vornehmen, eine Zeitersparnis und Arbeitserleichterung wären nicht mehr damit verbunden.

„Durch KI, das ist die Hoffnung, werden Angehörige der Heilberufe wieder genügend Zeit haben, sich den Pflegeempfängern zuwenden zu können.“

„Die KI macht Fehler, aber nicht, weil sie nicht funktioniert, sondern weil sie dann zu wenig an Wissen generieren konnte.“

Die oben erwähnte Autokorrektur ist das beste Beispiel dafür — wie oft korrigiert das Gerät etwas hin zum Falschen. Die KI macht Fehler, aber nicht, weil sie nicht funktioniert, sondern weil sie dann zu wenig an Wissen generieren konnte. Ein:e Grundschüler:in, der:die das Schreiben lernt, wird auch immer besser, je mehr er:sie schreibt. Grundbedingung einer funktionsfähigen Künstlichen Intelligenz ist also, dass sie über ausreichend Lernmaterialien bzw. Daten verfügt, dass sie also oft betrieben und gefordert wird und damit dazulernen kann. Der begrenzende Faktor ist dabei wiederum der Datenschutz — auf was soll KI zugreifen können, was könnte im schlechtesten Fall „in falsche Hände geraten“ — Fragen, die es noch zu lösen gilt.

Frage der Haftung bisher ungeklärt

Die Europäische Union ist aktuell mit der Haftungsthematik beschäftigt, denn KI wird es auch in vielen anderen Bereichen künftig geben — beim autonomen Fahren, bei autonom arbeitenden Reinigungs- oder Lieferrobotern. Noch bleibt abzuwarten, wie die Gesetzgeber die Thematik einer Haftung letztlich lösen werden — aber eines ist sicher, eine Lösung wird gefunden werden, denn KI ist allseits für die Zukunft gewollt. Möglicherweise wird die KI für sich selbst haften, sich selbst haftpflichtversichern müssen — Zukunftsvisionen in greifbarer Nähe.

Ethischer Rahmen

Ethische Fragen sind im Gesundheitswesen unabdingbar. Was immer dort geleistet wird, es muss einem ethischen Rahmen entsprechen. Meinungsvielfalt und eine immer pluralistischere Gesellschaft müssen Beachtung finden. Die Weltanschauung des einen oder die Religion des anderen verbietet manches, was machbar wäre. In einer demokratischen Gesellschaft muss daher immer die Mehrheit der Bevölkerung den Ausschlag geben, was im Einklang mit dem Grundgesetz zulässig sein soll und was nicht. Doch wenn es um neue Techniken geht, fehlt es bisweilen an dieser Mehrheit — das darf kein Hemmschuh für die Forschung sein. Manches Mal wird man auch erst Überzeugungsarbeit leisten müssen.

Vor diesem Hintergrund soll KI nicht ein futuristisches, vielleicht sogar weitgehend ohne menschliche Arbeitskräfte funktionierendes Gesundheitswesen entstehen lassen, das Gegenteil ist das Ziel. Die permanent überlasteten Pflegekräfte und Ärzt:innen sollen entlastet werden. Ein Plus an Menschlichkeit wird angestrebt — das können wir uns alle nur wünschen. Die Frage „KI als Fluch oder Segen?“ wäre dann eindeutig zugunsten der KI zu beantworten. Dass es auch in eine andere Richtung gehen könnte, ist wie in jedem anderen Lebensbereich nie ganz auszuschließen. Wir alle als Gesellschaft, aber auch die Politik, sind daher gefordert, die Bedingungen so zu schaffen, dass die Entwicklung zum Wohle der Pflegekräfte, Ärzt:innen und Pflegeempfänger vorangeht.

erschienen in PROCARE 5/2023