„Gender Pain Gap“ – wenn Schmerzen nicht ernst genommen werden

Äußern Frauen ihre Schmerzen, werden sie weniger ernst genommen als Männer. Das wirkt sich auch auf die Therapie aus. Warum ist das so? Und ist eine geschlechtersensible Schmerzmedizin möglich?

Eine Frau kennt keinen Schmerz? Noch immer wird einigen Frauen nachgesagt, dass sie nicht an “realen” Schmerzen leiden würden. © L Ismail / peopleimages.com / stock.adobe.com

Auf die „Gender Pain Gap“ hat kürzlich die International Pharmaceutical Federation (FIP – Fédération Internationale Pharmaceutique) in einer Broschüre hingewiesen: Weltweit gebe es in den Gesundheitssystemen geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Schmerzbehandlung. Tendenziell seien dabei Frauen gegenüber Männern benachteiligt [1].

Neu ist das nicht. So hatte bereits 2007 eine Arbeitsgruppe der International Association for the Study of Pain (IASP) Eckpunkte definiert, um das Phänomen wissenschaftlich genauer zu beleuchten [2]. Seitdem mag mancher Zusammenhang klarer geworden sein. Inwiefern dies in diagnostische und therapeutische Konsequenzen umgemünzt werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Die FIP zitiert in ihrer Publikation eine 2021 erschienene Studie zu chronischen Schmerzen in 19 europäischen Ländern, wonach es Unterschiede zwischen den Geschlechtern gebe, die sich auf einen Mix aus biologischen, sozialen und kulturellen Faktoren zurückführen ließen. Unterm Strich leiden Frauen häufiger unter chronischen Schmerzen als Männer. Der inadäquate Umgang damit sei Problem für die öffentliche Gesundheit, heißt es bei der FIP.

Schmerzäußerungen von Frauen weniger ernst genommen

Auch medizinische Laien unterschätzen Schmerzen bei Frauen im Vergleich zu Männern, berichten Forscher:innen [3]. Die Schmerzäußerungen von Frauen wurden in zwei Experimenten mit kurzen Videos, die den Teilnehmenden gezeigt wurden, als weniger intensiv wahrgenommen als jene von Männern. Vielfach bestand die Auffassung, dass Frauen eher von einer Psychotherapie profitieren würden, Männer eher von Analgetika.

Dies deutet auf Stereotype hin, wie sie offenbar weit verbreitet sind: Frauen klagten mehr als Männer, die Berichte über Schmerzen von Frauen seien weniger genau, Männer seien stoischer, sodass sie, wenn sie dann tatsächlich mal über Schmerzen klagten, tatsächlich an „realen“ Schmerzen leiden würden. Frauen dagegen seien angeblich besser in der Lage, Schmerzen zu tolerieren, oder hätten bessere Bewältigungsstrategien zur Verfügung als Männer.

Frauen bekommen seltener Opioide und Nichtopioid-Analgetika

Über die Folgen solcher Stereotype haben jetzt US- amerikanische und israelische Wissenschaftler:innen berichtet. Sie haben mehr als 21.000 Patient:innenakten aus beiden Ländern analysiert und festgestellt, dass Frauen seltener Opioide und Nichtopioid-Analgetika verordnet bekommen als ihre männlichen Leidensgenossen [4]. Interessant: Auch Ärztinnen verordnen weiblichen im Vergleich zu männlichen Patienten weniger Analgetika. Und: Die Diskrepanz in Bezug auf die Beurteilung des Schmerzes erstreckt sich auch auf Pflegekräfte. So wurden Schmerzwerte bei Frauen mit einer um 10 % geringeren Wahrscheinlichkeit erfasst als bei Männern.

Aus der wissenschaftlichen Literatur gehe hervor, dass Frauen bei gleicher Verletzung oder gleichen Beschwerden tendenziell größere Schmerzen hätten, wird einer der Studienautoren, Dr. Tom Gordon-Hecker von der Ben-Gurion-Universität in Israel, von Euronews Health zitiert. Sollte dies der Fall sein, wäre zu erwarten, dass Frauen mehr Schmerzmittel erhalten als Männer. Das Gegenteil sei jedoch der Fall, so Gordon-Hecker.

Medical Gaslighting
Beim Medical Gaslighting werden Symptome von medizinischen Fachpersonen nicht ernst genommen, heruntergespielt oder als psychosomatisch abgetan. Insbesondere Frauen, Personen mit Übergewicht oder Menschen anderer Kulturen sind davon betroffen. Das „Gender Pain Gap“ ist ein Resultat der Ungleichbehandlung von Mann und Frau.

Was die Hormone mit Schmerz zu tun haben

Die Frage ist, ob es zum Beispiel biologisch begründbare Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung gibt sowie Unterschiede in der Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten oder ob es in erster Linie sozial und gesellschaftlich konstruierte Rollenbilder sind, die da hineinspielen. So scheint das Sexualhormon Testosteron für eine eher höhere Schmerzschwelle zu sorgen, Östrogene dagegen senken die Schmerzschwelle. Reicht das als Erklärung dafür aus, dass zum Beispiel etwa 70 % der Menschen mit Migräne Frauen sind? Wohl kaum. Verändert sich im weiblichen Ovulationszyklus die Schmerzwahrnehmung und ließe sich dies schmerztherapeutisch berücksichtigen? Wie sieht es in der Menopause aus? Wie geht es Männern mit Testosteronmangel in Bezug auf Schmerzen? Diese und andere Fragen lassen sich nach wie vor nicht ausreichend beantworten.

„Interessant sind die beobachteten Testosteron-Mangelzustände bei Männern unter Langzeit-Opiattherapie“, sagt Dr. Thomas Cegla, Chefarzt an der Schmerzklinik des Helios Universitätsklinikums Wuppertal im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Es scheine günstig, in solchen Fällen Testosteron zu substituieren. Jedoch sei die Datenlage nicht ausreichend, um Einflüsse der Geschlechtshormone auf das Schmerzgeschehen abschließend zu beurteilen oder daraus praktische Konsequenzen zu ziehen.

Es fragt sich also, wie ein geschlechtersensibler Umgang mit dem Symptom Schmerz konkret aussehen könnte. Geschlechtsabhängige Unterschiede bei Nebenwirkungen und Wirkungen von Analgetika seien unzureichend erforscht, kritisierte Professorin Bettina Pfleiderer von der Universität Münster beim Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2024. Sie wies auf pharmakokinetische Unterschiede bei der Metabolisierung von Schmerzmitteln hin, bedingt durch den bei Frauen höheren Fettanteil und die bei Männern größeren Plasmavolumina. Die Gefahr, Paracetamol bei Frauen zu überdosieren und Leberschäden auszulösen, sei größer, so Pfleiderer, auf der anderen Seite sei das Bindungspotenzial lipophiler Opioide bei Frauen höher und sie dockten passgenauer an μ-Opioidrezeptoren an. Deshalb benötigten sie geringere Opioiddosen als Männer.

„Schmerz ist nicht weiblich oder männlich, Schmerz ist immer persönlich“, meint Thomas Cegla. Er kann aus eigener Erfahrung nicht bestätigen, dass sich etwa das Schmerzerleben bei Frauen verändert, wenn sie in die Wechseljahre kommen. Eher verändern sich Schmerztypen und Schmerzmuster, bedingt durch im Alter auftretende Krankheiten. So sind Frauen früher und stärker von Osteoporose betroffen als Männer. Frauen leiden unter Endometriose oder Vulvodynie – Männer selbstredend nicht. Andererseits sehe er Schmerzpatientinnen mit Missbrauchserfahrungen, was die Entwicklung chronischer Schmerzen beeinflussen könne. Im Zusammenhang mit Migration und Fluchtbewegungen betreffen sexuelle Gewalt und psychische Traumatisierungen ganz besonders Frauen.

Schmerzäußerungen als Zeichen der Schwäche

Kulturelle und familiäre Aspekte sowie Sprachbarrieren beeinflussen die schmerzmedizinische Versorgung ebenfalls. Das Äußern von Schmerzen wird von manchen Männern als Zeichen von Schwäche angesehen, Frauen werden öfter ermutigt, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, so Cegla. Frauen seien im Allgemeinen eher bereit, ärztliche Hilfe aufzusuchen als Männer. Erschwert werde die Beurteilung von Geschlechterunterschieden durch die Tatsache, dass Schmerz im Alter gesellschaftlich eher akzeptiert sei als in jungen Lebensjahren.

Im Arbeitsleben beobachtet der Schmerzmediziner andererseits eine zunehmende Leistungsorientierung auch bei Frauen, verbunden mit Durchhaltestrategien, sei es bei Berufseinsteigern, Selbstständigen oder karrierebewussten Menschen.

Da Schmerz nichts objektiv Messbares ist und stets sehr individuell wahrgenommen wird und da sich sowohl medikamentöse als auch nichtmedikamentöse Schmerztherapien am Behandlungseffekt orientieren, erscheint es schwierig, aus den gendermedizinischen Erkenntnissen konkrete Hinweise für eine geschlechtersensible Schmerzmedizin zu destillieren. Die FIP fordert die Einführung standardisierter, geschlechtsneutraler Instrumente zur Schmerzbeurteilung in der klinischen Praxis und eine Schulung von Gesundheitsdienstleistern, um Stereotypen der Geschlechter zu erkennen und abzuschwächen.

Von Mythen von angeblich wehleidigen jungen Männern, „alterstypischen“ Schmerzen oder Frauen, die eher Schmerzen ertragen könnten als Männer, sollte Abstand genommen werden, empfiehlt Cegla. In der Schmerzdiagnostik helfe zum Beispiel der Deutsche Schmerzfragebogen (DSF), Klischees und Stereotypen zu vermeiden [5]. Wichtig sei außerdem ein adäquates Monitoring des Schmerzverlaufs. Und bei speziellen schmerztherapeutischen Fragen komme es darauf an, gut mit anderen Fachrichtungen zu kooperieren, die das jeweilige schmerzverursachende Krankheitsbild betreffen. Vor allem aber sollten Schmerzen immer ernstgenommen werden, unabhängig vom Geschlecht!

Bericht: Dr. Thomas Meißner

Quelle: aerztezeitung.de

Literatur

1. International Pharmaceutical Federation (FIP). (2024) Gender-based disparities in the management of pain in pharmacy. „The Gender Pain Gap“: A literature review. The Hague: International Pharmaceutical Federation. 2024. https:// www.fip.org/file/5792.

2. Greenspan JD, et al. Consensus Working Group of the Sex, Gender, and Pain SIG of the IASP. Studying sex and gender differences in pain and analgesia: a consensus report. Pain. 2007;132(Suppl 1):26–S45. https://doi.org/10.1016/j. pain.2007.10.014.

3. Zhang L, et al. Gender Biases in Estimation of Others’ Pain. J Pain. 2021;22(9):1048–59. https://doi.org/10.1016/j.jpain.2021.03.001.

4. Guzikevits M, et al. Sex bias in pain management decisions. Proc Natl Acad Sci USA. 2024;121(33):e2401331121. https://doi.org/10.1073/pnas.2401331121.

5. Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. Deutscher Schmerzfragebogen (DSF). https://www.schmerzgesellschaft.de/schmerzfragebogen.