HWS-Syndrom präventionsorientiert behandeln

© Theresienhof

Im Interview spricht Prim. Mag. Dr. Gregor Kienbacher, MSc, Facharzt für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie am Klinikum Theresienhof, Sekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), über geeignete Trainingsübungen, um Schmerzen im Schulter- und Nackenbereich zu verhindern, und betont die enorme Relevanz der Bewegung vom Kindes- bis ins hohe Erwachsenenalter.

Miniserie Prävention
In dieser Miniserie setzen sich die SCHMERZ NACHRICHTEN mit dem Thema Prävention auseinander und befragt dazu Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche. Die Fragen stellt Mag. Christopher Waxenegger.

Herr Primarius Kienbacher, was genau versteht man unter dem Begriff Schulter-Nacken-Syndrom?

Kienbacher: Das Schulter-Nacken- bzw. Halswirbelsäulen(HWS)-Syndrom ist ein beschreibender Begriff, welcher der topischen Zuordnung von Schmerzen dient. Es handelt sich daher um keine Diagnose im eigentlichen Sinn. Der Arzt bzw. die Ärztin muss mit geeigneten – vor allem manuellen – Untersuchungstechniken die Ursache der Schmerzen exakt diagnostizieren. Das ist nicht immer einfach, da diese über die Schultern bis in die Hand, die Schläfen und sogar den Gesichtsbereich projizieren können. Am häufigsten beobachten wir Beschwerden ausgelöst durch Fehlhaltungen oder durch ergonomisch ungünstiges Arbeiten, z. B. am Computer. Neben der Nacken- und Schultergürtelmuskulatur können auch die Bandscheiben und die kleinen Wirbelgelenke (Facettengelenke) als Schmerzgeneratoren fungieren.

Gibt es Zahlen zur Prävalenz in Österreich?

Kienbacher: Nackenschmerzen sind wirklich sehr häufig. Schätzungen zufolge hat jeder Dritte einmal im Jahr damit zu tun, Frauen öfter als Männer. Für gewöhnlich sind die Beschwerden harmlos und verschwinden nach einer Weile von selbst. Sie können aber auch rezidivieren und chronisch werden. Statistik Austria beziffert die Häufigkeit von chronischen HWS-Problemen mit assoziierten psychosozialen Begleiterkrankungen mit 32 %. Grundsätzlich steigt mit dem Alter das Risiko, dass Nackenschmerzen zu einem längerfristigen Problem werden. Dasselbe trifft auf Personen zu, die im Rahmen eines Unfalls ein Schleudertrauma erlitten haben. Hinzu kommt eine nicht zu unterschätzende psychische Komponente.

Gibt es Risikofaktoren, welche die Entstehung von HWS-Beschwerden begünstigen?

Kienbacher: Im modernen Arbeitsleben wird vorwiegend die tonische Muskulatur, vor allem der M. trapezius und der große Brustmuskel (M. pectoralis major) beansprucht, die für das Leisten von Haltearbeit verantwortlich ist. Diese Muskelgruppen neigen daher in der Regel zu Verkürzungen. Die vorwiegend für die Bewegungsarbeit zuständige phasische Muskulatur, wozu der M. erector spinae – der „Aufrichter der Wirbelsäule“ – und die Schulterblattfixatoren gehören, wird demgegenüber vernachlässigt und neigt daher zur Abschwächung. Die Folge ist eine muskuläre Dysbalance mit Haltungsproblemen, Rundrückenbildung und Überstreckung der HWS (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: 9 Muskuläre Dysbalance fördert Haltungsprobleme

Mit welchen Symptomen werden Patient:innen üblicherweise vorstellig?

Kienbacher: Das obere HWS-Syndrom geht von den Kopfgelenken C0–C3 aus. Die Patient:innen klagen in der Regel über Kopfschmerzen, Schwindel bis hin zu Seh- und Hörstörungen. Gelegentlich kann auch ein Würge- oder Druckgefühl im Hals auftreten. Die Kopfschmerzen treten typischerweise im Bereich des Nackens auf und strahlen in den hinteren Kopf über die Schläfen manchmal bis in das Gesicht aus. Ein oberes HWS-Syndrom kann auch Schmerzen im Bereich der Stirn oder den Augenhöhlen verursachen. Gerade Schulkinder leiden oft unter den sog. „Schulkopfschmerzen“. Diese Schmerzen kommen dadurch zustande, dass Schulkinder über längere Zeit mit nach vorne gebeugtem Kopf lernen müssen. Verändert das Kind die Kopfhaltung, verschwinden die Beschwerden in der Regel rasch. Beim unteren HWS-Syndrom, das in der Regel von C3–C7 ausgeht, kämpfen die Betroffenen hingegen mit meist einseitigen Schmerzen. Im Fall des Zervikalsyndroms können sie in die Schulterregion, den Ellenbogen und bis in die Hände ausstrahlen. Viele berichten auch von Gefühlsstörungen wie eingeschlafene Hände, Kribbeln oder Ameisenlaufen im Handbereich. Hier müssen wir Ärzt:innen zwischen radikulären und pseudoradikulären Syndromen differenzieren und an die HWS als Auslöser denken.

Für viele Patient:innen mit HWS-Syndrom ist die Hausärztin bzw. der Hausarzt der erste Ansprechpartner. Was sollte der Untersuchungsablauf beinhalten und wann ist eine Abklärung durch Spezialist:innen indiziert?

Kienbacher: Der Untersuchungsablauf sollte aus drei Teilen bestehen: der topischen Diagnostik, der Strukturdiagnostik und der Aktualitätsdiagnostik. Die topische Diagnostik bildet die Voraussetzung zur Planung des Untersuchungsgangs. Sie erfolgt anhand der Anamnese (Ort, Art, Ausstrahlung, Charakter, Qualität, Intensität, Dynamik etc.) und der körperlichen Inspektion. Bei der Torticollis spasticus befinden sich beispielsweise die seitlichen Halsmuskeln sowie ein Teil der Nackenmuskeln einseitig stark in Dauerkontraktion, sodass eine extreme Schieflage resultiert. Patient:innen reagieren mit einer Neigung bzw. Rotation zur Störseite. Bei der radikulären Irritation ist das Gegenteil der Fall. Patient:innen neigen

bzw. rotieren den Kopf zur Gegenseite, um die Nervenaustrittskanäle zu entlasten. Im Zuge der Strukturdiagnostik werden die Beschwerden dann der pathogenetischen Struktur zugeordnet, also den Gelenken, Ligamenten, Muskeln usw. Sie gliedert sich in eine Funktionsanalyse und eine palpatorische Analyse zur Differenzierung „unspezifischer“ und „spezifischer“ Nackenschmerzen. Die Aktualitätsdiagnostik setzt schließlich alles in einen zeitlichen Kontext und hilft beim Verstehen und Einordnen der Pathogenese. Sind Warnsignale – die berüchtigten Red Flags – vorhanden, ist eine sofortige Abklärung durch Spezialist:innen indiziert.

Die Untersuchung umfasst topische Diagnostik, Struktur- und Aktualitätsdiagnostik.

Wie werden HWS-Syndrome behandelt und von welchen nichtmedikamentösen Maßnahmen können Betroffene profitieren?

Kienbacher: Es gilt das Credo: Bei akuten Beschwerden Reize abbauen, bei chronischen Beschwerden Reize setzen. Die akute Phase ist gekennzeichnet von einer schmerzreflektorischen Verspannung mit teils massiver Bewegungseinschränkung. Passive Therapiemaßnahmen, etwa eine weiche Schanzkrawatte und weiterführende Abklärung über den selbstlimitierenden Charakter stehen an erster Stelle. Medikamentös sind mit den nichtsteroidalen Antirheumatika, Infiltrationen mit einem Lokalanästhetikum/Kortisongemisch, Muskelrelaxanzien und Antikonvulsiva (bei Radikulopathie) mehrere analgetisch wirksame Optionen verfügbar. All diese Maßnahmen haben ein Ziel: Schmerzen lindern, um Bewegung zu fördern! Manche Menschen mit Nackenschmerzen befürchten, dass ihre Beschwerden zunehmen oder sie sich verletzen könnten, wenn sie körperlich aktiv sind. Solange es aber keine Warnzeichen für ernsthafte Probleme gibt, besteht kein Anlass zur Sorge. Es ist sogar essenziell, trotz der Schmerzen in Bewegung zu bleiben und wie gewohnt den alltäglichen Dingen nachzugehen. Nach Abklingen der Akutsymptomatik und Freiwerden der Bewegungsrichtungen schließen sich dann Traktions- und Mobilisationsbehandlungen an.

In der chronischen Phase wollen wir hingegen Reize setzen und den Körper aktivieren. Das gelingt uns mit Weichteiltechniken, isometrischer und dynamischer Kräftigung der Nacken-, Schulter- und Schulterblattmuskulatur. Akutanalgetika oder invasive Maßnahmen treten in den Hintergrund und werden bedarfsorientiert durch Antidepressiva und Opioide ersetzt. Den Nacken gezielt zu trainieren, kann Nackenschmerzen von vornherein verhindern. All unsere HWS-Patient:innen erhalten deshalb eine Bewegungsschulung und praktische Kärtchen mit Übungen für zuhause, die ihnen dabei helfen, ihre Beschwerden zu lindern und neuen vorzubeugen (siehe Fotocollage: Praktische Übungen bei HWS-Syndrom im Anschluss an dieses Interview).

Alle Maßnahmen haben ein Ziel: Schmerzen lindern, um Bewegung zu fördern.

Können Patient:innen auch vorbeugend aktiv werden?

Kienbacher: Das ist tatsächlich möglich. Das Zauberwort heißt: ergonomisches Arbeiten. Die Arbeitshaltung am Computer beispielsweise ist geprägt von einer Anteflexion im zervikothorakalen Übergang, gepaart mit einer Retroflexionshaltung in den Kopfgelenken. Ergonomische Maßnahmen beinhalten daher die Anpassung der Sitzhöhe, wobei die oberste Bildschirmzeile leicht unterhalb der waagrechten Achse stehen sollte. Optimal ist ein Sichtabstand zum Bildschirm von etwa 50 cm, Arme und Beine sowie Oberschenkel und Unterschenkel bilden einen rechten Winkel, Ellenbogen und Handflächen befinden sich in einer Ebene mit der Tastatur und Maus. Abgesehen davon geht die Wissenschaft davon aus, dass es insbesondere auf Bewegung am Arbeitsplatz ankommt. Das bedeutet, dass man seine Sitzposition möglichst häufig wechselt („aktives Sitzen“) und zwischendurch immer wieder aufsteht und sich bewegt. Bewegung fördert nicht nur die Durchblutung der Muskulatur, sondern auch die Ernährung der Bandscheiben durch eine gesteigerte Diffusion.

Wann sollte diese Prävention beginnen?

Kienbacher: Eine effektive Prävention startet am besten bereits im frühen Kindesalter mit circa drei Jahren. Das Kindesalter ist generell eine hochaktive Phase bei der insbesondere Sprungbelastungen und koordinative Bewegungen eine große Rolle spielen. In dieser Lebensphase beginnt sich der Stütz- und Bewegungsapparat auszubilden. Auch das Muskelwachstum setzt in dieser Zeit ein. Letztlich entstehen im späteren Leben dann deutlich weniger Probleme, weil der Körper in der Lage ist, auf vorhandene Ressourcen zurückzugreifen. Blickt man auf die ältere Bevölkerung, ist der Ansatz anders. Hier arbeiten wir mit Bewegungstherapie und altersadaptierten Hilfsmitteln. Den Betroffenen eine Krücke in die Hand zu drücken, ist allerdings zu kurz gedacht. Wir müssen informieren und aufklären, erläutern, dass die Krücke ein Trainingsgerät ist, mit dessen Unterstützung sich längere Strecken zurücklegen lassen, was wiederum hilft, die Muskeln symmetrisch zu belasten und einen ergonomischen Gang und eine ergonomische Haltung fördert. Wenn wir das tun, werden unsere Patient:innen die Krücke nicht als Einschränkung, sondern als nützliches Hilfsmittel betrachten. Letztendlich ist der einzige Fehler, den man machen kann, sich nicht zu bewegen.

Wie könnte ein erfolgreiches Präventionskonzept aus Ihrer Sicht aussehen?

Kienbacher: Prävention sollte meiner Meinung nach schon im Kindergarten beginnen. Wir müssen Bewegungsangebote schaffen – Stichwort tägliche Turnstunde – und unseren Kindern beibringen, was gut und was schlecht ist. Das inkludiert beispielsweise ein Theoriefach in Bewegungserziehung, Ernährungsverhalten und das Wissen um die Anatomie und Physiologie des Körpers. Davon würden die Kinder ein Leben lang profitieren. Derartige Vorgehensweisen sind wissenschaftlich abgesichert, werden jedoch viel zu selten und unzureichend umgesetzt.

„Es gilt das Credo: Bei akuten Beschwerden Reize abbauen, bei chronischen Beschwerden Reize setzen.“


Übungen für Patient:innen zur Prävention des HWS-Syndroms

Übung Schulterentspannung

Instruktion:

  • Aufrecht stehen oder sitzen
  • Schultern nach vorne und oben zu den Ohren bewegen
  • Schultern nach hinten und unten absinken lassen
  • In der Endposition die Schultern bewusst loslassen

Beachte:

  • Bei aufrechtem Oberkörper finden die Schultern durch Loslassen ihre richtige Position

TIPP! Die wohltuende Entspannung im Nacken und Schulterbereich bewusst spüren


Variante:

  • Theraband quer über die Schultern legen und unter dem Gesäß einklemmen
  • Gegenden Widerstand des Bandes die Schultern nach vorne oben bewegen
  • Langsam die Schultern vom Band nach hinten unten ziehen lassen

Ziel:

  • Finden einer entspannten Schulterposition

Übung „Mr. Spock“ – Dreh und schau

Instruktion:

  • Frei und aufrecht auf einem Hocker/Sessel sitzen
  • Nacken in die Länge ziehen (= Marionette)
  • Den Kopf auf einer imaginären Scheibe langsam nach links drehen

Beachte:

  • Kinn beim Drehen auf gleicher Höhe halten
  • Das hintere, linke Ohr ist in der Endposition etwas höher > Mr. Spock!
  • Schultern bleiben unten und entspannt
  • Bewegung langsam in beide Richtungen durchführen

Variante:

  • Eine kleine Nickbewegung am Bewegungsende ausführen
  • Gegenüberliegenden Arm nach unten drehen

Ziel:

  • Erhaltung und Verbesserung der Drehbewegung
  • Dehnen und lockern der Nackenmuskulatur
  • Leichteres Einparken durch besseres Drehen!

Übung Kopfstabilisator

Instruktion:

  • Beine leicht beugen und mit dem Rücken einen möglichst guten Kontakt zur Wand aufbauen
  • Den Kopf stabilisieren und die Arme auf und ab bewegen

Beachte:

  • Das Gesicht ist parallel zur gegenüberliegenden Wand
  • Bei Überstreckung ein Kissen unter den Hinterkopf legen
  • Die Bewegung erst beschleunigen, wenn der Kopf ruhig gehalten werden kann
  • Unterbauch leicht nach innen ziehen

Variante: Geschwindigkeit variieren und mit leichten Hanteln üben

Ziel:

  • Kräftigung der tiefen Nackenmuskeln bei aktiven Armen
  • Mit einer stabilen Nackenmuskulatur lässt sich der Kopf leichter tragen!

Erschienen in den Schmerz Nachrichten 2/2023