Invasive Verfahren in der Therapie des Gesichts- und Kopfschmerzes, Teil IV: Neurodestruktive Eingriffe

Die primäre Behandlung von Schmerzen jeglicher Art erfolgt pharmakologisch, physikalisch-medizinisch oder verhaltenstherapeutisch. Versagen diese konservativen Therapiemaßnahmen, geraten Therapeut:innen und Patient:innen schnell in große Not. Der vorliegende Artikel ist der vierte Teil einer Arbeit über invasive Verfahren in der Therapie von Gesichts- und Kopfschmerzen.


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von Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Universitätsklinik für Neurochirurgie, Medizinische Universität Innsbruck


Destruierende Eingriffe wie Chordotomien, Traktotomien oder Exheresen werden von uns und international in der Gesellschaft für Funktionelle Neurochirurgie nicht mehr, oder nur noch in Ausnahmezuständen, durchgeführt. Sie sollten nur noch bei schwersten, nichtbeherrschbaren Tumorschmerzen und kurzer Lebenserwartung der Patient:innen eingesetzt werden. Es zeigte sich nämlich, dass diese Eingriffe im Laufe der Zeit als Folge einer weiteren chirurgischen Deafferentierung noch intensivere Schmerzen nach sich ziehen können. Dies entgeht häufig der Aufmerksamkeit vieler, nicht auf die funktionelle Neurochirurgie und neurochirurgische Schmerztherapie spezialisierte Kolleg:innen, die diese wissentlichen Therapieversager oft nicht zu Spezialist:innen, sondern zu Psychiater:innen schicken, die damit häufig komplett überfordert sind. Woher sollen sie wissen, was noch mögliche Therapieoptionen sind. Somit bleibt ihnen nur noch die Möglichkeit, die Patient:innen darin zu unterstützen, mit ihren Beschwerden und ihrem Schicksal besser klar zu kommen.

Wir als Spezialist:innen (ich kann nur wenige Therapeut:innen mit großer Erfahrung in intrazerebraler Schmerztherapie in Europa identifizieren) haben ein nicht geringes Armamentarium, um eine Analgesia dolorosa zu behandeln. Ein Versagen unserer Therapie bedarf erneut größter Anstrengungen aller in der Schmerztherapie engagierten Kolleg:innen, um das Leben unserer Patient:innen erhaltbar zu machen.

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Patientenbeispiel

Trigeminusneuralgie – Trigeminusneuropathie, tiefe Gehirnstimulation – neues Therapiekonzept, Radiochirurgie. Im Folgenden wird ein Fall beschrieben, in dessen Verlauf nahezu alle neurochirurgischen Therapieoptionen zur Behandlung der Trigeminusneuralgie und -neuropathie angewandt werden mussten, um der Patientin eine ausreichende Schmerzlinderung zu ermöglichen und ihre Lebensqualität zu erhalten.

Im Jahr 1999 traten bei einer Tirolerin im 4. Lebensjahrzehnt ein einschießender, lanzinierender Gesichtsschmerz im 2. und 3. Trigeminusversorgungsast links auf. Es zeigte sich bald, dass nichtsteroidale Antiphlogistika keinen positiven Einfluss auf die Schmerzsituation mit ansteigender Attackenhäufigkeit pro Tag hatten. Eine Medikation mit Carbamazepin bis über 2,5 g pro Tag und die Gabe von Saroten und Lyrica in hoher Dosis konnten die täglichen Attacken nur an Intensität abschwächen, sie aber nicht beseitigen.

Nach 6 Jahren konservativer Therapie und beidseitiger Schmerzattacken wurde im Jahr 2006 eine mikrovaskuläre Dekompression des N. trigeminus ins Auge gefasst. Man führte eine mikroneurochirurgische Dekompression der Root-Entry-Zone, der Eintrittsstelle des N. trigeminus in den Hirnstamm links, durch. Es wurde eine AICA(„anterior inferior cerebellar artery“)-Schlinge vom N. trigeminus abpräpariert und ein Teflonschwämmchen als Interponat zwischen N. trigeminus und Gefäßschlinge eingebracht. Nach der Operation war die Patientin von den linksseitigen Schmerzattacken befreit. Gleiches wurde ein halbes Jahr später für die rechte Seite durchgeführt, die Patientin war ebenfalls schmerzfrei.

Innerhalb eines Jahres kam es zu einem Wiederauftreten der Schmerzattacken, zuerst links und dann rechts. Ein neuerlicher medikamentöser Therapieversuch wurde durchgeführt. Mit einer Besserung der nicht mehr so starken Attacken wie 2004 wurde die Patientin 2010 an unserer Klinik vorstellig. Wir vereinbarten eine Reevaluation des N. trigeminus, die 2011 rechtsseitig durchgeführt wurde. Der Eingriff erbrachte keine Schmerzlinderung und keine Attackenfreiheit.

Nach einer neuerlichen frustranen medikamentösen Optimierungsphase wurde die Patientin mehrfach ambulant beurteilt. In einem interdisziplinären neurologischen, neuroradiologischen, neurochirurgischen Board wurde eine Rhizotomie des rechten N. trigeminus beschlossen. Ende 2012 wurde, als Ultima Ratio bei nach wie vor unerträglichen Dauerschmerzen brennenden Charakters mit partieller Hypästhesie (Neuropathie) in der rechten Gesichtshälfte mit zusätzlichen Schmerzspitzen (neuralgiforme Attacken), der Versuch unternommen, eine selektive sensorische Rhizotomie des sensorischen Astes des N. trigeminus durchzuführen. Auf Grund der Voroperationen war es den Chirurgen intraoperativ nicht möglich, eine Unterscheidung zwischen motorischen und sensorischen N. trigeminus vorzunehmen, worauf beide N.-trigeminus-Äste vollständig durchtrennt wurden. Nach der Operation hatte die Patientin einen vollständigen Verlust der Berührungsempfindung in der rechten Gesichtshälfte vom Scheitel bis zum Hals. Zwei Tage nach der Operation trat eine Zunahme des Brennschmerzes in der rechten Gesichtshälfte auf. Die Patientin hatte das Gefühl, ihr Gesicht würde „in höchsten Temperaturen glühen“. Bereits geringste Luftbewegungen und Berührungen führten zu unerträglichen Zuständen. Neurontin, Saroten, Lyrica wurden auf Höchstdosen erhöht.

Nach Entfernung der Fäden im Operationsbereich wurde die Patientin nach Hause entlassen. Die Schmerzen waren inzwischen brennende Dauerschmerzen mit krankhaft gesteigerter Berührungsempfindung und Missempfindungen. Die Patientin konnte sich nur noch in einem Zimmer ohne Geräusche und Luftbewegung aufhalten. Sogar helles Licht, durch Reflexionen im Schnee bedingt, waren unerträglich. Die zusätzliche Gabe von Anafranil erbrachte eine gerade noch erträgliche Schmerzsituation, die allerdings weiterhin an eine absolute Ruhe der Umgebung gebunden war.

Die Patientin stellte sich zur Diskussion einer weiteren neurochirurgischen Schmerztherapie in unserer Spezialsprechstunde vor, und wir kamen überein, unser modifiziertes Verfahren zur Therapie neuropathischer Schmerzen in einer Teststimulation einzusetzen. Als Termin wurde Mai 2013 ins Auge gefasst. Inzwischen haben wir keine Ausführungen über den Zustand des linken Gesichtes und des linksseitigen N. trigeminus gemacht. Nach der rechtsseitigen Rhizotomie kam es links zu einem Rezidiv der Neuralgie mit einschießenden Schmerzen in der Nasolabialfalte und um den lateralen linken Mundwinkel trotz hoher Dosen Carbamazepin und oben aufgeführter spezifischer Medikamente.

Die Patientin wandte sich bezüglich der Schmerzen an das Y‑Knife-Zentrum am AKH Wien. Im April 2014 wurde eine Radiochirurgie des linksseitigen N. trigeminus durchgeführt. Im Mai 2014 waren die Schmerzen in der rechten Gesichtshälfte inklusive des Auges so unerträglich, dass die Behandlung in Form einer Teststimulation des sensorischen Thalamus (Ncl. ventroposteromedialis thalami) und des hinteren Schenkels der Capsula interna ipsilateral zum Gesichtsschmerz durchgeführt werden sollte.

In Allgemeinnarkose wurden jeweils eine Elektrode zur tiefen Gehirnstimulation in den sensorischen Thalamus rechts und eine Elektrode in den hinteren Schenkel der Capsula interna rechts implantiert. Mittels temporärer Ausleitungen konnten die Elektroden durch die Kopfhaut aktiviert werden. Bereits nach der Elektrodenimplantation waren die brennenden Dauerschmerzen gebessert, was als Mikrothalamothomie-Effekt häufig nach korrekter Elektrodenimplantation gefunden wird. Nach Austestung aller Kontakte der vierpoligen Platinelektroden konnten in wiederholten Teststimulationssitzungen über 3 Tage die brennenden Dauerschmerzen mit heftigster Berührungsschmerzhaftigkeit vollständig beseitigt werden. Sogar die Allodynie war verschwunden, und die Patienten konnte ihr Gesicht wieder berühren.

Nach Internalisierung des Stimulationssystems wurde der Schrittmacher aktiviert und so programmiert, dass die Patientin in der rechten Gesichtshälfte in Ruhe schmerzfrei wurde. Bei Luftzug trat ein Brennen im rechten Auge auf. Bei körperlicher Belastung verspürt die Patientin ein Heißwerden der rechten Gesichtshälfte, was als unangenehm empfunden wird, aber weit von der Schmerzhaftigkeit vor der Elektrodenimplantation entfernt ist. Im weiteren Verlauf verspürte die Patientin in der linken Gesichtshälfte ein leichtes bis mittelstarkes Tingling, das Aufblitzen von kleinen einschießenden, lanzinierenden Schmerzen, die von der Schmerzambulanz pharmakologisch begleitet werden konnten und der Patientin eine gute Lebensqualität durch nahezu Schmerzfreiheit bringt.

Dieses Beispiel soll zeigen, dass es äußerst komplex werden kann, Patient:innen mit schwersten idiopathischen oder iatrogenen Schmerzsyndromen zu kommunizieren, mit den pharmakologisch erreichten Therapieergebnissen leben zu müssen! Es gäbe keine andere Hilfe. Natürlich ist es notwendig, den Nutzen invasiver Therapieformen mit den Risiken eines neurochirurgischen Eingriffs abwägen zu können. Die Möglichkeit von weiteren Therapieoptionen, wenn auch anfangs nur zu Testzwecken, ist in der Lage, die prekäre Situation schwerstkranker Menschen erträglich zu machen.

Wir werden demnächst die Methoden und ihren Stellenwert neurodestruktiver Verfahren weiter darstellen. Unserer Patientin geht es gut, und ich hoffe, ich konnte Sie dazu bringen, Ihre hoffnungslosen Fälle uns vorzustellen. Wir versuchen alle gemeinsam, unseren Mitmenschen zu helfen.

erschienen in Schmerz Nachrichten 2/2023