Naltrexon bei Chronischem Fatigue Syndrom und Long COVID

22. Österreichische Schmerzwochen 2023

Niedrigdosiertes Naltrexon könnte ein hilfreiches Medikament zur Symptombehandlung bei Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) und Long COVID sein.

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Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine neuroimmunologische schwerwiegende Multisystemerkrankung, deren Ursachen nicht behandelt werden können. Im Vordergrund der Behandlung steht daher die Linderung der Beschwerden, insbesondere Schmerzreduktion. „Dafür braucht es eine sehr auf die Personen und ihre Symptome zugeschnittene Therapie. Niedrig dosiertes Naltrexon könnte ein Mittel sein, um die Palette symptom- und schmerzreduzierender Medikamente bei ME/CFS und möglicherweise auch bei Long COVID zu erweitern“, erklärt Dr. Thomas Weber, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, Vorstandsmitglied der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), anlässlich der 22. Schmerzwochen der ÖSG.

Die von ME/CFS betroffenen Patient:innen leiden typischerweise unter extrem beeinträchtigter Leistungsfähigkeit, die mit schwerer körperlicher wie geistiger Müdigkeit und Erschöpfung (Fatigue) einher geht. „Die Krankheit kann bis zu Bettlägrigkeit und Pflegebedürftigkeit führen“, so Dr. Weber. Begleitet wird die stark eingeschränkte Leistungsfähigkeit von einer Zustandsverschlechterung nach körperlicher oder mentaler Anstrengung (Post-Exertional Malaise, PEM) sowie Konzentrationsstörungen und Schwierigkeiten, sich beim Denken zu fokussieren („Gehirn-Nebel“). ME/CFS-Patient: innen leiden zudem an einer erhöhten Infektanfälligkeit. Diese führt wiederum zu einer Häufung an Symptomen wie Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen sowie Husten. Ebenfalls für die Erkrankung typisch ist, dass Betroffene nicht ein- oder durchschlafen können, obwohl sie sehr müde und erschöpft sind. Zudem bringt der Schlaf keine Erholung. Viele ME/ CFS-Patient:innen berichten von Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, die ähnlich einem Reizdarm-Syndrom sein können. Ebenfalls häufig treten chronische oder akute Schmerzen in Muskelgewebe, Knochen und Gelenken, im Kopf- und Halsbereich sowie gesteigerte Schmerz- und Reizempfindlichkeit auf, speziell nach Belastung [1, 2].

Dr. Weber setzte bei der Behandlung einer Patientin mit ME/ CFS medikamentöse und nicht-medikamentöse Mittel ein. Neben Bewegungs- und Physiotherapie, progressive Muskelrelaxion sowie dem Erlernen von Einschlafritualen erhielt die Patientin Tramadol gegen ihre Schmerzen. Als add on-Medizin zu diesem Opioid gab Dr. Weber Cannabdiol (CBD), Dronabinol (THC) sowie niedrig dosiertes Naltrexon. „Patient:innen müssen darüber aufgeklärt werden, dass eine Therapie mit Naltrexon streng off-label ist. Sie müssen dieses Medikament auch selbst bezahlen“, sagt Dr. Weber. Eine Monatstherapie Naltrexon kostet etwa 40 €.

Der ME/CFS-Patientin konnte mit dieser Therapie geholfen werden. Ihre Symptome verbesserten sich deutlich, sie hatte weniger Schmerzepisoden. Wie Naltrexon genau wirkt, ist noch nicht geklärt. Womöglich wirkt die Substanz antagonistisch auf den Opioid-Wachstumsfaktor-Rezeptor, hemmt über Toll-Like-Rezeptor-4 vermittelte Entzündungssignalwege, moduliert Makrophagen und Mikroglia, hemmt T- und B-Lymphozyten oder wirkt über noch unbekannte Wege. Aufgrund seiner anti-entzündlichen Wirkung wird niedrigdosiertes Naltrexon seit Jahren für die Behandlung von Fibromyalgie, Morbus Crohn und Multipler Sklerose eingesetzt. In einer grundlegenden Studie wurde die mögliche therapeutische Wirkung von niedrigdosiertem Naltrexon auf ME/CFS-Patient:innen untersucht [3]. Fallstudien zeigten, dass Naltrexon bei ME/CFS den Schlaf verbessern, Schmerzen lindern und neurologische Störungen vermindern konnte [4].

ME/CFS und Long COVID

Bei einem Teil der Patient:innen entwickelt sich nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 ein Symptomkomplex, der ME/CFS ähnelt [5]. Noch ist unklar, wie groß dieser Anteil ist. Jedoch erfüllt ein erheblicher Anteil der Verläufe des Post COVID-Syndroms die Diagnosekriterien für ME/CFS. In Österreich könnten bis zu 64.000 Menschen mit Post COVID-Syndrom zusätzlich zu den bereits bestehenden 25.000 ME/CFS-Patient:innen betroffen sein. Befürchtet wird, dass in den nächsten Jahren mit einer Verdopplung der Personen gerechnet werden muss.

Naltrexon könnte auch bei Long COVID zum Einsatz kommen und Symptome wie Schmerzen, Fatigue und „Gehirn-Nebel“ lindern. Forscher:innen hoffen sogar, mit niedrigdosiertem Naltrexon die Pathologien umkehren zu können, die den Symptomen zugrundeliegen. Nach einer Handvoll Pilot-Studien, in denen Naltrexon Long COVID-Patient:innen mehr Energie, Schmerzlinderung, bessere Konzentration und weniger Schlaflosigkeit sowie eine allgemeine Erholung von COVID-19 brachte [6], sollen nun mindestens vier große klinische Studien, die die Wirkung von Naltrexon auf Long COVID untersuchen.

Bericht: Dr. Stefan Wolfinger

Literatur

1. Nacul L, et al. European ME Network (EUROMENE) Ann Univ Mariae Curie Sklodowska [Med]. 2021;57:510.
2. National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome: diagnosis and management. London. 2021
3. Cabanas H, Muraki K, Marshall-Gradisnik S, et al. Front Immunol. 2021;12:687806.
4. Bolton MJ, Chapman BP, Van Marwijk H. BMJ Case Rep. 2020;13(1):e232502.
5. Renz-Polster H, Scheibenbogen C. Inn Med. 2022;63(8):830–9.
6. O’Kelly B, Vidal L, McHugh T, et al. Brain Behav Immun Heal. 2022;24:100485.  

Erschienen in den Schmerz Nachrichten 1/2023


22. Österreichische Schmerzwochen

Seit über 20 Jahren informiert die ÖSG mit einer jährlichen Kampagne über die neuesten Entwicklungen in der Schmerzmedizin, klärt über das verfügbare Behandlungsspektrum auf und sensibilisiert politische Entscheidungsträger:innen für Notwendigkeiten und Defizite in der Schmerzversorgung.

Der Schwerpunkt der aktuellen Informationskampagne liegt auf der Behandlung von Long COVID-Symptomen.


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