Schmerzprävention aus neurochirurgischer Sicht

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Kaum ein anderes Gesundheitsproblem belastet mehr als der Schmerz. Um unnötige Wirbelsäulenoperationen zu vermeiden, sollte bereits in der Kindheit das Bewusstsein für die Wirbelsäulengesundheit vermittelt und präventionsorientiert gehandelt werden.

Schmerzen sind eine der Hauptursachen für körperliche Funktionseinschränkungen, Arbeitsunfähigkeit und Verlust an Lebensqualität. Im Interview spricht Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Facharzt für Neurochirurgie an der Universitätsklinik für Neurochirurgie, Medizinische Universität Innsbruck, Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), über den hohen Stellenwert der segmental stabilisierenden Muskulatur und ihre Bedeutung in der Vermeidung von Schmerzen durch chronische Fehlhaltung und Haltungsschwäche der Patient:innen.

Miniserie Prävention
In dieser Miniserie setzen sich die SCHMERZ NACHRICHTEN mit dem Thema Prävention auseinander und befragt dazu Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche. Die Fragen stellt Mag. Christopher Waxenegger.

Mit welcher Patient:innengruppe haben Sie als Neurochirurg in der Praxis am häufigsten zu tun?

Eisner: Die weitaus größte Rolle spielen neben akuten chronische und schwerst-schmerzleidende Patient:innen. Diese teilen sich grob in Patient:innen mit Schmerzen im Wirbelsäulenbereich und Stützapparat, sowie in Patient:innen mit stärksten Kopfschmerzen in Folge von lebensbedrohlichen Gehirnblutungen aus rupturierten Aneurysmata, Neuralgien, wie zum Beispiel der Trigeminusneuralgie, oder anderen medikamentös therapieresistenten Schmerzsyndromen. Sind unsere potenten medikamentösen Behandlungsmethoden nicht ausreichend und bestätigt sich das fehlende Therapieansprechen, haben ich und mein Team die bei Bewegungsstörungen wie beim M. Parkinson so erfolgreiche Methode der tiefen Gehirnstimulation weiterentwickelt und können damit vielen Menschen helfen. Wir führen zurzeit als Einzige in Österreich die tiefe Gehirnstimulation bei Schmerzpatient:innen regelmäßig durch. Die Methode wurde über 20 Jahre entwickelt und ist in der Lage, je nach Schmerzursache jeden zweiten oder gar zwei von drei Patient:innen so zu helfen, dass mehr als 60 % der bisher nicht behandelbaren Schmerzen gebessert werden. Dafür werden ca. 1,2 mm durchmessende Platinelektroden punktgenau ins Gehirn implantiert, die dort, je nach Programmierung, Nervensignale stimulieren oder inhibieren. Patient:innen mit Problemen in der Wirbelsäule oder dem Stützapparat haben häufig schon Operationen hinter sich und/oder wurden multisegmental stabilisiert, bevor ich sie zum ersten Mal sehe. Hier erfasse ich zuallererst den neurologischen und einen muskulären Befund/Status, um mein Gegenüber ohne Worte erfassen zu können und letztendlich die Ursache der Beschwerden ausfindig zu machen. Gibt es positive Triggerpunkte? Besteht ein myofasziales Syndrom? Sehr oft sind das Bindegewebe und die Muskelfaszien schmerzhaft, die Bewegung erheblich eingeschränkt. Hier macht es keinen Sinn (erneut) zu operieren, da sich eine verkürzte Muskulatur durch Operationen nicht beheben lässt. Ich will die Patient:innen in den Mittelpunkt der Therapie bringen, indem ich die Problemzone ausfindig mache, mit der alles begann. Dann kommt der nächste Schritt, bei dem ich die Patient:innen selbst erkennen lasse, wo bei ihnen das Kernproblem liegt. Mit meinem Wissen als Arzt (Neurochirurgie – Arbeitsweise des Gehirnes beim Lernen, Basiswissen in Physikalischer Medizin, Manueller Medizin etc.) versuche ich die einzelnen Elemente des Schmerzgeschehens einfach und verständlich zu erklären. Hierfür zeige ich einfache effektive Maßnahmen aus diesem Teufelskreis der kontinuierlichen Schmerzspirale. Bereits während der Instruktion verspüren die Betroffenen eine Linderung der Schmerzen und dies ist die Motivation selbst etwas zu tun. Häufig wird wirklich viel gemacht. Die Menschen wollen gesünder und fitter sein, aber ohne die essenziellen Schritte verstanden zu haben, wird es schwer sein nicht aufzugeben, weil ja alles nur vorübergehend hilft und letztendlich doch alles beim Schmerz bleibt.

Wie kamen Sie dazu, die tiefe Hirnstimulation bei Schmerzpatient:innen einzusetzen?

Eisner: Ich beschäftige mich seit den 1980er Jahren mit dem Thema Schmerz. Zuerst mittels konservativer Methoden. Hier war es prägend, den Schweizer Pionier der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin inklusive Balneologie Herrn Prof. Dr. Edward Senn kennenlernen zu dürfen und viel in seinen abendlichen Visiten und seinen hervorragenden Kursen mitgenommen zu haben. Später kamen die invasiven Methoden hinzu, dies dann mittels Neurochirurgie. Eines meiner Ziele war es schon immer die Sicherheit der Patient:innen im OP zu verbessern, etwa durch den routinemäßigen Einsatz elektrophysiologischer Untersuchungen, die in den 1980er Jahren noch in den Kinderschuhen steckten und von mir, unter anfänglicher Unterstützung von Prof. Dr. Urs D. Schmid, in das digitale Zeitalter und stabil in die Routine des klinischen Alltages geführt und verankert werden konnten. Das Geschrei war groß, als wir die Wachkraniotomie wieder in die Tumorchirurgie des Gehirnes, Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als festen Bestandteil der modernen Neurochirurgie etablierten. Während meiner Zeit in Amerika bei Prof. Peter Jannetta, W. Lundsford und Aage Moller (Pittsburgh, PA) beschäftigte ich mich vor allem mit der mikrovaskulären Dekompression von Hirnnerven, vor allem des N. trigeminus bei der Trigeminusneuralgie. Da lag es natürlich nahe sich mit atypischen Gesichtsschmerzen zu befassen. Hierzu hatte Prof. Dr. Ulrich Steude an der LMU München die Ganglion Gasseri Stimulation entwickelt und wir hatten über 2000 Patient:innen mit Beschwerden um den N. trigeminus behandelt. Prof. Dr. Klaus Twerdy und das Schmerzteam der Innsbrucker Neurochirurgie holten mich 1999 nach Österreich, um in Innsbruck schließlich die funktionelle Neurochirurgie, Stereotaxie und intraoperative EIektrophysiologie mit Tiefenhirnstimulation bei Bewegungsstörungen bei M. Parkinson, den verschiedenen Formen der Dystonie und essentiellen Tremor, Chorea Huntington, Tourette Syndrom zu etablieren und die Patient:innen, die mit einer chronischen Rückenmarkstimulation oder mit einer intrathekalen Medikamentenapplikation nicht geholfen werden konnte, mit weiter zentral gelegenen Eingriffen zu behandeln.

Wie haben Sie das gemacht?

Eisner: Wir haben die epidurale Motorkortexstimulation mit Neuronavigation eingeführt und optimiert sowie die tiefe Gehirnstimulation bei Schmerzpatient:innen angewandt. Grund dafür war, dass sich trotz optimaler Behandlung die Schmerzintensität vieler Patient:innen aus meiner und der Sicht des Schmerzteams zu wenig reduzierte. Daraufhin begannen wir alle anatomischen Zielstrukturen zu evaluieren, aber nach anfänglichen Erfolgen in der Schmerzreduktion kam es immer wieder zu einem Verschwinden des Therapieeffektes, was sich auch in der internationalen Literatur widerspiegelte. Nach Analyse der Datenlage und der Zielstrukturen blieb nur ein Bereich über und das war eine Region, die nicht berührt werden durfte, da es gleich zu schwerwiegenden Lähmungen führen würde. Die Literatur der 1960er und 1970er Jahre berichtete von guten Behandlungsergebnissen, ohne dass uns Unterlagen wie Röntgenbilder oder post mortem Präparate zu Verfügung standen, um von ihnen lernen zu können. Die Computertomographie war damals noch in Entwicklung und die Magnetresonanztomographie kam erst in den 1980er Jahren in die Kliniken. So näherte ich mich der bis dato wenig beachteten Pyramidenbahnen (Capsula interna) von neuropathischen Schmerzpatient:innen, um diese mit Elektroden zu bestücken. Zwei von drei Patient:innen sprechen auf dieses Verfahren dauerhaft und gut an. An den Therapieversager:innen arbeiten wir, um ihre Funktionsweise besser zu verstehen und besser helfen zu können.

Sie erwähnten eingangs eine zweite Gruppe von Patient:innen mit Problemen in der Wirbelsäule oder dem Stützapparat. Wie gehen Sie bei diesen Menschen vor?

Eisner: Man gewinnt heute den Eindruck, dass sowohl Ärzt:innen als auch Patient:innen bei Rückenschmerzen auf der Suche nach dem „heiligen Bandscheibenvorfall“ sind – Indiana Jones lässt grüßen. Dass es abgesehen davon noch sehr viele andere Gründe für Rückenschmerzen gibt, ist wenigen bewusst. Ein Bandscheibenvorfall ist häufig auch nur Produkt einer langsamen, aber stetigen Veränderung unserer Haltung und unserer Bewegungsgewohnheiten. Damit will ich sagen, dass es sich um erlerntes Verhalten und erlernte Haltung handelt. Unser Gehirn ist so süchtig danach, neue Information verarbeiten zu dürfen, das ist zugleich unsere größte Gefahrenzone. Es lernt, ohne uns bewusst zu sein, die Fehlhaltungen und fehlerhaften Bewegungsmuster. Es ist sogar so hilfsbereit, dass es uns in der früh mit der Fehlhaltung aus dem Bett schickt, was sich bereits beim Waschen des Gesichts mit Schmerzen im Beckengürtel bemerkbar macht. Gehen wir weiter in die Details, die wir alle im Studium gelernt haben, aber nicht in unser tägliches ärztliches Tun übersetzen. Unser Körper verfügt über zwei verschiedene Systeme an Muskulatur. Wir haben Muskeln, die uns bewegen (globales System), und wir haben Muskeln, die uns segmental stabilisieren (lokales System). Segmentale Muskeln stützen als tiefste Muskelschicht den gesamten Bewegungsapparat. Segmentblockierungen führen zum Beispiel dazu, dass man sich nicht bis zum Boden bücken kann. Verkürzungen können einen akuten Hexenschuss provozieren. Ursache ist fast immer eine chronische Fehlhaltung durch falsche Bewegung. Werden segmentale Muskeln nicht regelmäßig gedehnt und gekräftigt verkürzen sie, um die Haltearbeit, die sie ausführen müssen, bewerkstelligen zu können. Im Fall der Adduktoren an der Oberschenkelinnenseite, die vom Knie bis hoch zum Schambein verlaufen, wird das Schambein nach unten gezogen und das Kreuzbein steht nach hinten aus. Zudem erkennt man unterhalb des Nabels oft eine Vorwölbung des Bauches, weil durch die pathologische Vorneigung und den flachen Kreuzbeinwinkel, eine Hyperlordose der Lendenwirbelsäule (LWS) entsteht, in der Regel gefolgt von einer Hyperkyphose der Brustwirbelsäule und einer Hyperlordose der Halswirbelsäule (HWS).

Merken die Patient:innen davon nichts?

Eisner: Die meisten Patient:innen merken erst etwas, wenn es zu Schmerzen oder strukturellen Veränderungen kommt. Normalerweise steht der Mensch auf der Ferse, auf der Außenseite der Fußsohle und den zwei äußeren Zehenballen. Mehr als 50 % der Bevölkerung stehen heutzutage auf den Vorfüßen, weil sie eine Hyperlordose der LWS haben. Das könnte man eigentlich ganz leicht erkennen, weil sich die Zehen in den Boden drücken und dadurch weiß anlaufen. Bei manchen Personen entwickelt sich im Zuge dieser unnatürlichen Druckbelastung ein Hallux valgus und in weiterer Folge Hammerzehen. Bei aufgerichteten Becken sind die Zehen eigentlich in der Luft. Die flache Stellung des Kreuzbeins bewirkt jedoch, dass der Oberschenkelkopf nicht zentral in der Hüftpfanne steht. Auch die Rückenstrecker werden elastisch, verkürzen sich, ziehen dabei das Beckengewebe nach hinten und fixieren es in einer rigiden Form, sodass man das Schambein nicht mehr nach oben ziehen kann. Verstärkter Knochenabrieb an den Hüft- und Kniegelenken ist damit vorprogrammiert.

Wie behandeln Sie Patient:innen mit geschwächter und verkürzter segmentaler Muskulatur?

Eisner: Als erstes ist es wichtig zu erkennen, wie stark die jeweiligen Muskeln verkürzt sind. Im nächsten Schritt zeige ich den Patient:innen, wie sie ein Bewusstsein für ihren Körper bekommen. Optimalerweise sollte ein derartiges Training schon in der Schule beginnen, wo man den Kindern beibringt, wie sie ihre Wirbelsäule entlasten, einsetzen und bewegen können. Gezieltes Training der segmentalen Muskulatur hilft die pathologische Verkrümmung der Wirbelsäule zu kompensieren. Gleiches gilt für den Schultergürtelbereich. Der M. pectoralis minor liegt unterhalb des M. pectoralis major, setzt unter der zweiten Hälfte der Rippen an und zieht durch die Achselhöhle nach hinten zum oberen Bereich des Schulterplattes. Fehlendes Training dieses Muskels verhindert, dass wir die obere Brustwirbelsäule aufrichten, weil das Schulterblatt flach gegen den Thorax gehalten wird. Der Kopf würde somit eigentlich nach vorne Richtung Boden blicken. Um weiterhin gerade auszuschauen, überdehnen die Menschen ihre HWS und verletzen sich. Der Zugang für Patient:innen mit Problemen in der HWS ist also der verkürzte M. pectoralis minor, in der LWS die verkürzten Adduktoren der Oberschenkel.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Wo sehen Sie die Schmerzprävention in zehn Jahren?

Eisner: Dass Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen ein Bewusstsein für ihre Wirbelsäule und die möglichen Bewegungen haben.

Gibt es noch etwas, dass Sie im Hinblick auf unser Leitthema „Schmerzprävention aus neurochirurgischer Sicht“ gerne hinzufügen möchten?

Eisner: In aller Regel steht vor der Diskushernie, der Radikulopathie und der Lumbalgie das myofasziale Syndrom. Das Bindegewebe ist hochwertiges Gewebe, wo der lymphatische Abwehrkampf gegen Bakterien und Viren stattfindet, Sensoren für die Lage im Raum und Schmerzrezeptoren lokalisiert sind. Die zu Beginn auftretenden nozizeptiven Schmerzen gehen von eben jenem Bindegewebe und den Muskeln aus. Das müssen Ärzt:innen erkennen. Zahlreiche medizinische Tests untersuchen lediglich die phasische Muskulatur, jedoch nicht die tonische. Um nachhaltig erfolgreich zu sein, benötigen wir einen ganzheitlichen Zugang, der präventiv schon im Kindesalter beginnt und auch im späteren Leben weiter fortgeführt wird und als integrativer Bestandteil unser gesamtes Leben begleitet.

Erschienen in den Schmerz Nachrichten 3/2023