Schmerzprävention aus neurologischer Sicht: vorhandene Therapieoptionen nutzen

Kaum ein anderes Gesundheitsproblem belastet mehr als der Schmerz, insbesondere wenn es sich dabei um chronische Schmerzen handelt. Allein in Österreich sind davon annähernd zwei Millionen Menschen betroffen. Eine neuropathische Komponente verkompliziert die Behandlung und erfordert eine differenzierte Herangehensweise.

© Anna Rauchenberger

Schmerz ist ein unmissverständliches Zeichen, dass mit dem Körper etwas nicht stimmt. Eine Art natürliche Alarmfunktion, die sich als unangenehme Wahrnehmungs- und Gefühlserfahrung verbunden mit tatsächlicher oder möglicher Gewebeschädigung oder der Vorstellung einer solchen präsentiert. Chronische Schmerzen haben diesen physiologischen Aspekt verloren und sind eine der Hauptursachen für körperliche Funktionseinschränkungen, Arbeitsunfähigkeit und Verlust an Lebensqualität. Prim. PD Dr. Nenad Mitrovic, Facharzt für Neurologie, spricht im Interview über die Relevanz neuropathischer Schmerzen und bekräftigt den Stellenwert präventiver Maßnahmen seitens der Patient:innen.

Miniserie Prävention
In dieser Miniserie setzen sich die SCHMERZ NACHRICHTEN mit dem Thema Prävention auseinander und befragt dazu Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche. Die Fragen stellt Mag. Christopher Waxenegger.

Prim. Mitrovic, wie entstehen eigentlich neurologische Schmerzen und was unterscheidet diese von nozizeptiven bzw. noziplastischen?

Mitrovic: Grundsätzlich handelt es sich bei nozizeptiven Schmerzen um eine physiologische Reaktion des Körpers, die das Risiko für Verletzungen reduziert. Etwa wenn wir mit der Hand auf eine heiße Herdplatte greifen und diese reflexartig zurückziehen. Demgegenüber beruhen neuropathische Schmerzen auf einer Nervenläsion des somatosensorischen Systems. Derartige Läsionen können zwar ebenfalls durch Verletzungen und Traumata entstehen, aber auch durch schlecht eingestellten Diabetes oder langjährigen Alkoholmissbrauch. Sie erzeugen eine pathologische Überempfindlichkeit, die selbst wenn die eigentliche Läsion bereits verschwunden ist, weiter fortbesteht. Bei noziplastischen Schmerzen findet sich weder eine Gewebeschädigung noch eine Läsion im somatosensorischen Nervensystem. Diese Schmerzform wird durch eine Veränderung der Nozizeption erklärt, wie sie beispielsweise bei Fibromyalgie auftritt.

Rund zwei Millionen Menschen in Österreich leiden an chronischen Schmerzen. Wie steht es um die Prävalenz chronisch-neuropathischer Schmerzen?

Mitrovic: Die Prävalenz chronischer Schmerzen nimmt mit dem Alter kontinuierlich zu und bewegt sich je nach Studie und betrachtetem Patient:innen-Kollektiv zwischen 26 und 76 %. In der österreichischen Gesundheitsbefragung ATHIS (Austrian Health Interview Survey) von 2019, die sich mit der Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustands auf Basis der Häufigkeit von chronischen Krankheiten und Schmerzen beschäftigt, waren chronische Schmerzsyndrome prominent vertreten. So lag die 12-Monats-Prävalenz für chronische Rückenschmerzen bei 26 %, für chronische Nackenschmerzen oder sonstige chronische Beschwerden der Halswirbelsäule bei 19,5 % und jene von chronischen Kopfschmerzen bei 7,8 %. In einer Umfrage aus 15 europäischen Ländern und Israel gaben zwischen 12 und 30 % der Befragten an, in den letzten sechs Monaten mindestens zweimal pro Woche mäßige bis starke Schmerzen gehabt zu haben. Für Österreich lag der Anteil der Betroffenen bei 19 %. Prof. Gustorff und Kolleg:innen beschäftigten sich in einer etwas älteren prospektiven Umfrage gezielt mit der Prävalenz von neuropathischen Schmerzen in Österreich und fanden eine Gesamtprävalenz von 3,3 %, wobei der Anteil mit zunehmendem Alter anstieg.

19 % der Österreicher:innen haben mindestens zweimal pro Woche mäßige bis starke Schmerzen.

Ist die Gefahr einer Chronifizierung höher, wenn es wie beim „mixed pain“ zu einer Überlappung verschiedener Schmerztypen kommt?

Mitrovic: Der „mixed pain“, wie wir ihn zum Beispiel von Rückenschmerzen oder Bandscheibenläsionen mit aufgelagertem Facettensyndrom her kennen, ist eine komplexe Angelegenheit. Er erfordert nicht nur ein abgestimmtes multidisziplinäres Vorgehen, sondern ist auch nachweislich mit einer höheren Chronifizierungsrate assoziiert.

Was sind die häufigsten Ursachen für neuropathische Schmerzen in der Praxis? Gibt es Risikogruppen und -faktoren, die es zu berücksichtigen gilt?

Mitrovic: In Summe verursachen Diabetes und Alkoholkonsum rund 60 % aller neuropathischen Syndrome. Auf diese beiden Faktoren ist dementsprechend besonders zu achten. Während bei alkoholischer Polyneuropathie die giftigen Abbauprodukte des Ethanols, und damit die Alkoholmenge, von Bedeutung sind, ist es bei Menschen mit Diabetes die Qualität der Blutzuckereinstellung. Hohe Blutzuckerwerte sind mit einem signifikant höheren Risiko für Neuropathien vergesellschaftet. Laut derzeitiger Datenlage entwickelt rund die Hälfte aller Patient:innen mit Diabetes im Laufe ihres Lebens eine schmerzhafte Neuropathie. Meist wird eine distal symmetrische Neuropathie mit charakteristischen socken- bzw. handschuhförmigen Sensibilitätsstörungen diagnostiziert. Die Prävalenz scheint bei Diabetes mellitus Typ 2 höher als bei Typ 1 zu sein. Weitere Risikofaktoren für neuropathische Schmerzen sind unter anderem Gürtelrose, Vitamin-B12-Mangel sowie zu schnelle Korrekturen eines erhöhten HbA1c-Werts mit einer Reduktion von zwei Prozentpunkten innerhalb von drei Monaten.

In Publikationen zu Long-COVID werden immer öfter neurologischen Störungen erwähnt. Spielen diese Patient:innen auch im klinischen Alltag eine Rolle?

Mitrovic: Long-COVID ist ein komplexes Krankheitsgeschehen, dass angesichts der Neuartigkeit des Krankheitsbildes und der variablen Klinik intensiv untersucht wird. Bislang gibt es keine einheitliche Definition für Langzeitfolgen, doch ein nicht unerheblicher Teil der Patient:innen dürfte über neurologische Symptome berichten. Meiner Erfahrung nach sind es vor allem Müdigkeit und myofasziale Schmerzen, mit denen die Betroffenen kämpfen.

Die Lehre vom Nervensystem, seinen Erkrankungen und deren Behandlung ist eine komplexe Disziplin.

Wie würden Sie die generelle Versorgung von neuropathischen Schmerzpatient:innen in Österreich beurteilen?

Mitrovic: Die Lehre vom Nervensystem, seinen Erkrankungen und deren Behandlung ist eine sehr spannende, aber auch komplexe Disziplin, die ich gerne mit Detektivarbeit vergleiche. Diese Komplexität ist es jedoch, was viele Nachwuchs-Mediziner:innen in die Neurologie verschlägt. Im Gegensatz zu anderen medizinischen Fachbereichen sind wir personalmäßig gut aufgestellt. Hinzu kommt, dass in Österreich wirksame Medikamente verfügbar sind, mit denen wir Neurolog:innen unseren Patient:innen helfen können.

Inwiefern unterscheidet sich die Behandlung von neurologisch bedingten Schmerzen von anderen Schmerzsyndromen?

Mitrovic: Da wäre zum einen die Auswahl der adäquaten Medikation. Herkömmliche Analgetika aus der Gruppe der COX-Hemmer sind bei reinen neuropathischen Schmerzen überflüssig und mit zahlreichen Nebenwirkungen behaftet. Vielmehr sollte bei bestätigter Diagnose auf sogenannte Co-Analgetika zurückgegriffen werden. Eine uneinheitliche Gruppe von Arzneistoffen, die primär nicht für die Schmerztherapie vorgesehen sind, jedoch direkte und/oder indirekte analgetische Effekte ausüben. Interessanterweise wirken Co-Analgetika bei gesunden Menschen mit akuten Schmerzen kaum schmerzlindernd, wohingegen es bei neuropathischen Schmerzen durchaus realistisch ist eine Schmerzreduktion, um mindestens 30–50 % zu erreichen. Zum anderen stehen uns für gewisse neurologische Schmerzsyndrome wie die Migräne spezifische Wirkstoffe zur Verfügung. Leider werden Triptane, wie Ergebnisse der Eurolight-Study an über 9.000 Patient:innen zeigen, viel zu selten verordnet. Selbiges gilt übrigens für die medikamentöse Migräneprophylaxe. In dieser Hinsicht müssen wir einfach aktiver werden.

Ein potenzieller Auslöser von chronischen (neuropathischen) Schmerzen sind operative Eingriffe. Haben Co-Analgetika auch im perioperativen Schmerzmanagement einen Stellenplatz?

Mitrovic: Co-Analgetika wie Gabapentinoide spielen im perioperativen Schmerzmanagement eine untergeordnete Rolle. In mehreren systematischen Metaanalysen wurde keine klinisch signifikante analgetische Wirkung bei der perioperativen Anwendung von Gabapentinoiden beobachtet. Es gab auch keine Wirkung auf die Prävention von postoperativen chronischen Schmerzen, dafür ein höheres Risiko für unerwünschte Ereignisse. Die gefundenen Resultate widersprechen der routinemäßigen Anwendung von Pregabalin oder Gabapentin im perioperativen Setting.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Wo sehen Sie die Therapie und Prävention neuropathischer Schmerzen in zehn Jahren?

Mitrovic: Noch immer erhalten viele Patient:innen bei neuropathischen Schmerzen ungeeignete Medikamente. Umgekehrt werden vorhandene Therapieoptionen viel zu selten genutzt. Das sind auf jeden Fall Punkte, die sich aus neurologischer Sicht bessern sollten. Wenn wir dann noch die Patient:innen motivieren könnten, selbst mehr für ihre Gesundheit zu unternehmen, sind wir auf einem guten Weg.

Praktische Hinweise vom Experten
Wie Patient:innen selbst aktiv werden können:

  • Regelmäßige neurologische Kontrollen
  • Gewichtsreduktion bei Übergewicht/Adipositas
  • Gute Einstellung zugrundeliegender Erkrankungen
  • Ausdauersport
  • Entspannungsübungen
  • Kognitive Verhaltenstherapie
  • Anpassung des Lebensstils
  • Vermeidung von Risikofaktoren
  • Impfung gegen Post-Zoster-Neuralgie

Erschienen in Schmerz Nachrichten 4/2022