Schmerzprävention aus orthopädischer Sicht: Bewegung als „Medikament“

© Theresienhof

Mit dem Anstieg der Lebenserwartung steigt das Risiko für schmerzhafte degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates. Schmerzen ausgehend vom Bewegungsapparat sind eine der Hauptursachen für körperliche Funktionseinschränkungen, Arbeitsunfähigkeit und Verlust an Lebensqualität. Im Interview betont Prim. Mag. Dr. Gregor Kienbacher, MSc, Facharzt für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie am Klinikum Theresienhof, die enorme Relevanz von Bewegung bis ins hohe Alter.

Miniserie Prävention
In dieser Miniserie setzen sich die SCHMERZ NACHRICHTEN mit dem Thema Prävention auseinander und befragt dazu Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche. Die Fragen stellt Mag. Christopher Waxenegger.

Herr Primarius Kienbacher, warum entstehen eigentlich Schmerzen im Bewegungsapparat?

Kienbacher: Die Mehrheit der Menschen mit andauernden Schmerzzuständen haben Rückenschmerzen, oft kombiniert mit Gelenks- und Nackenschmerzen. Rückenschmerzen werden von den Patient:innen oft mit dramatischen Erkrankungen, zum Beispiel einem Bandscheibenvorfall, in Verbindung gebracht. Dementsprechend hoch ist die Unsicherheit. Meistens gehen sie aber vom Muskel-Band-Apparat beziehungsweise von den Faszien der kleinen Wirbelgelenke aus. Auslöser ist fast immer zu wenig Bewegung. Nicht trainierte Muskeln sind den an sie gestellten Anforderungen einfach nicht gewachsen. Das Ergebnis sind Schmerzen, welche wiederum eine Schonhaltung begünstigen und Angst vor neuerlichen Schmerzen schüren. Ein wahrer Teufelskreis. Nach Ausschluss spezifischer Ursachen sollten Patient:innen daher eingehend über den in aller Regel selbstlimitierenden Charakter aufgeklärt werden.

Arztbesuche wegen Schmerzen variieren je nach Facharztrichtung. In der Orthopädie sind über 80 % der Konsultationen diesem Anliegen geschuldet. Wie erklären Sie sich das?

Kienbacher: Zahlreiche technische Neuerungen haben den noch vor 100 Jahren aktiven Homo sapiens in einen sitzenden verwandelt. Früher wurde fast alles zu Fuß erledigt: Einkaufen gehen, Besorgungen machen, Freizeitgestaltung und so weiter. Die Liste dieser dem Bewegungsapparat zuträglichen Tätigkeiten ließe sich noch lange weiterführen. In Summe resultiert aus unserem technisierten Leben also ein starker Bewegungsmangel, da Arbeit heutzutage auf ganz andere Art und Weise erledigt wird. Auch eine falsche Bewegungsergonomie ist wesentlich an der Entstehung von Schmerzen mitbeteiligt. Dies erklärt die hohe Prävalenz in orthopädischen Praxen.

Wie werden Schmerzen des Bewegungsapparats in der Regel behandelt?

Kienbacher: In den allermeisten Fällen reicht eine konservative Behandlung. Es gilt der Grundsatz konservativ vor invasiv. Letzteres sollte nur bei absoluter Notwendigkeit, etwa bei Frakturen, Eiterungen

oder Nervenausfall, in Betracht gezogen werden. Zuallererst schließt man Red Flags für spezifische Rückenschmerzen aus. Im zweiten Schritt liegt die medikamentöse Therapie mit nichtsteroidalen Schmerzmitteln wie Naproxen oder Diclofenac nahe. Doch auch manualtherapeutische Techniken zur Lösung muskulärer Kontrakturen, Wärme, um die angespannte Muskulatur zu lockern, oder Infiltrationen mit entzündungshemmenden Medikamenten sind eine vielversprechende Option. Das oberste Ziel all dieser Maßnahmen ist es, den Schmerz zu verringern und damit die Voraussetzung für vermehrte körperliche Aktivität zu schaffen. Wenn man nach sechs Wochen kein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt, spricht man von subakuten (Rücken-)Schmerzen. Spätestens dann sollte mit einer umfassenden breit aufgestellten, interdisziplinären diagnostischen Abklärung unter Einschluss bildgebender Verfahren gestartet werden.

Wie viele Patient:innen erreichen dieses subakute Stadium?

Kienbacher: Daten zeigen, dass von den Schmerzpatient:innen, die in eine Ordination kommen, 60 % nach einer Woche beschwerdefrei sind und weitere 30 % bis Woche sechs. Demnach fallen ungefähr zehn Prozent in den subakuten Bereich, wovon wiederum fünf Prozent chronische Schmerzen entwickeln. Diese fünf Prozent sind auch einer multimodalen Behandlung nur sehr schwer zugängig und verursachen gleichzeitig die meisten Kosten für das Gesundheitssystem.

Wie und wann sollten Patient:innen vorbeugend aktiv werden, und welche Möglichkeiten zur Prävention gibt es?

Kienbacher: Optimalerweise startet die Prävention schon im frühen Kindesalter mit circa drei Jahren. In dieser Lebensphase beginnt sich der Stütz- und Bewegungsapparat auszubilden, auch das Muskelwachstum setzt in dieser Zeit ein. Letztlich entstehen im späteren Leben dann deutlich weniger Probleme, weil der Körper in der Lage ist, auf bereits vorhandene Ressourcen zurückzugreifen. Das Kindesalter ist grundsätzlich eine hochaktive Phase, in der insbesondere Sprungbelastungen und koordinative Bewegungen eine große Rolle spielen. Blickt man hingegen auf die ältere Bevölkerung, ist der Ansatz ein gänzlich anderer. Hier arbeiten wir mit einer Bewegungstherapie, ggf. mit Hilfsmitteln, und informieren die Patient:innen, wie man bestimmte alltägliche Dinge regelt (z. B. Treppensteigen, Rollator). Doch auch für das hohe Alter gilt: Der einzige Fehler, den man machen kann, ist sich nicht zu bewegen! Alles, was mit Bewegung zu tun hat, ist gut. In welcher Form diese stattfindet, ist egal – Hauptsache, die Menschen haben Spaß daran.

Warum ist Bewegung für den Bewegungsapparat so wichtig?

Kienbacher: In Österreich lebende Menschen haben im EU-Vergleich eine hohe Lebenserwartung. Geht es jedoch um die Anzahl der gesunden und beschwerdefreien Jahre, schneiden wir im europäischen Vergleich ziemlich schlecht ab, denn Österreicher:innen weisen sieben gesunde Lebensjahre weniger als der durchschnittliche EU-Bürger auf. Das heißt, jede:r Österreicher:in gilt im Schnitt 57 Jahre seines/ihres Lebens als gesund, die übrige Zeit leidet er/sie unter Erkrankungen und Beeinträchtigungen. Die Gründe dafür sind unter anderem der moderne Lebensstil, die Zunahme von sitzenden Tätigkeiten sowie die demographisch bedingte Alterung der Gesellschaft. Bewegung ist ein essenzieller Teil, um diese gesunden Lebensjahre zu verlängern.

Praktische Hinweise vom Experten

  • Bewegung, Bewegung, Bewegung!
  • Ausschluss von Red Flags
  • Patient*innen über selbstlimitierenden Charakter aufklären
  • Bewegungsprogramm etablieren
  • Adäquate (nicht)medikamentöse Schmerztherapie
  • Nach spätestens sechs Wochen multimodale Diagnostik starten
  • An primär, sekundär und tertiär Prävention denken
  • Konservativ vor invasiv

Wie kann mit Bewegung Schmerzen vorgebeugt werden?

Kienbacher: Die doch recht bekannte Aussage der WHO, wonach jeden Tag 10.000 Schritte gesundheitsfördernd sind, basiert in Wahrheit nicht auf wissenschaftlichen Studien, sondern einer jahrzehntealten Werbung. Tatsache ist jedoch, dass 10.000 Schritte sicherlich sehr förderlich für das Herz-Kreislauf-System sind, der Körper bewegt wird und die Muskelkraft steigt. Will man sich allerdings zum Beispiel einen Fahrradergometer für die eigenen vier Wände anschaffen, ist es besser, sich vorab eine Trainingsstrategie zu überlegen. Generell sollten nämlich alle sportmotorischen Grundeigenschaften trainiert werden. Hierzu gehören Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit in den Gelenken (Bücken, Heben etc.), Schnelligkeitstraining sowie koordinative Fähigkeiten, wobei sich die Intensität und Art der Übung nach den individuellen Ressourcen richtet. Speziell die Koordination gewinnt im Alter an Bedeutung.

Rückenschmerzen stellen das häufigste Gesundheitsproblem in Österreich dar. 2020 wurde der Qualitätsstandard „unspezifischer Rückenschmerz“ beschlossen. Erstmals wurde damit eine besonders wichtige Gruppe von chronischen Schmerzpatient:innen in die bundesweite verbindliche Gesundheitsplanung aufgenommen. Hat sich seitdem etwas an der Versorgung der Patient:innen geändert?

Kienbacher: Damit wurde der Prävention von Rückenschmerzen endlich mehr Beachtung geschenkt. Die 2013 erstmals veröffentlichte und 2018 aktualisierte nationale Versorgungsleitlinie „unspezifischer Kreuzschmerz“ fungierte hierbei als Grundlage für den Qualitätsstandard. In diesem wird auf Themen wie koordinative Netzwerke, Präventivversorgung und Datenschutzaspekte eingegangen. Mit dem politischen Willen würde sich das geschriebene schnell umsetzen lassen. Da bisher keine Kostenträgeranreize existieren, müssen wir uns bis zur endgültigen Etablierung noch gedulden. Auch die Zersplitterung der Gesundheitsförderung in Österreich trägt das Ihre dazu bei.

Wenn Sie in die Zukunft blicken könnten: Wo sehen Sie die Therapie von Schmerzen des Bewegungsapparats in zehn Jahren?

Kienbacher: In Zukunft würde ich mir die Implementierung der primären, sekundären und tertiären Prävention wünschen. Primärpräventive Maßnahmen setzen ein, bevor die Erkrankung überhaupt entsteht (Stichwort: tägliche Sportstunde). Ist eine Degeneration und Abnutzung eingetreten, wird sekundär versucht, durch Übungen die ergonomischen Abläufe und koordinativen Fähigkeiten zu bewahren. Sind die Patient:innen bereits erkrankt, erfolgt schließlich tertiärpräventiv der Erhalt von Funktion und Struktur. Dieses Vorgehen ist wissenschaftlich abgesichert, wird hingegen viel zu selten genutzt. Stattdessen landen nach wie vor viele Patient:innen unnötig auf dem OP-Tisch.

Erschienen in Schmerz Nachrichten 2/2022