Schmerzprävention in der Langzeitpflege, Teil 1

Personalschlüssel und Skill & Grade Mix passen nicht zur Realität

© Anna Rauchenberger

Schmerz findet sich in allen Bereichen und Fachdisziplinen der Gesundheits- und Krankenpflege wieder, besonders in der Langzeitpflege. Ihre hochwertige Ausbildung befähigt diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger:innen (DGKP), betroffene Patient:innen umfassend zu betreuen und die gesamte multimodale Schmerztherapie zu steuern. Leider wird in Österreich noch immer viel zu selten auf ihre Expertise zurückgegriffen.

Im ersten Teil dieses ausführlichen Interviews spricht Svetlana Geyrhofer, BA, DGKP, Pflegeexpertin im Schmerzmanagement und der Aromapflege, Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, über das Konzept der Langzeitpflege insgesamt und die dabei bestehenden Defizite sowie die Forderungen der Pflege an die Politik. Der zweite Teil des Interviews, der sich speziell mit der Schmerzversorgung in der Langzeitpflege beschäftigt, wird in Ausgabe 1/2024 der Schmerz Nachrichten publiziert.

Miniserie Prävention
In dieser Miniserie setzen sich die SCHMERZ NACHRICHTEN mit dem Thema Prävention auseinander und befragt dazu Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche. Die Fragen stellt Mag. Christopher Waxenegger.

Ihr Buch „Pflegetherapie im Schmerzmanagement“ beginnt mit den berühmten Worten Bilbo Beutlins „Wo fange ich an … ?“ Vielleicht mit einer allgemeinen Definition: Langzeitpflege, was ist das überhaupt? Und inwiefern unterscheidet sie sich von der Akutpflege?

Geyrhofer: Die Langzeitpflege unterscheidet sich von der Akutpflege in vielen Bereichen, vor allem in strukturellen, organisatorischen und personellen Rahmenbedingungen. In der Langzeitpflege werden Menschen betreut, die aus unterschiedlichen Gründen keine Möglichkeit mehr haben, sich daheim selbst zu versorgen. Dabei spielt das Alter keine Rolle. Da es immer noch viele Langzeitpflegeeinrichtungen gibt, die sich „Seniorium“ nennen, entsteht das falsche Bild, dass dort ausschließlich Senior:innen wohnen. Auch das Wort Senior:innen vermittelt, dass es sich hierbei um alte Menschen handelt, die in ein Pflegeheim ziehen, einfach weil sie nicht allein sein wollen, die jedoch noch fit und rüstig sind. Das mag vor 30 Jahren so gewesen sein. Mittlerweile gibt es die Vorgabe, dass ein Mensch mindestens Pflegestufe 4 vorweisen muss, um Anspruch auf einen Pflegeheimplatz zu haben. Das bedeutet, dass Menschen in der Langzeitpflege, egal welchen Alters, weder fit noch rüstig und daher sehr pflegeaufwendig sind. Dabei geht es nicht nur um körperliche, sondern auch um kognitive Beeinträchtigungen. In der Akutpflege werden ebenso ältere Menschen betreut, der Zeitraum ist jedoch kürzer. Braucht ein Mensch in der Akutpflege keine medizinische Versorgung mehr, ist sie/er jedoch aufgrund seiner körperlichen und kognitiven Verfassung nicht in der Lage, sich daheim selbst zu versorgen, wird für sie/ihn ein Pflegeheimplatz beantragt. Leider herrscht in Österreich immer noch die Meinung, dass pflegebedürftige Menschen von ihren Angehörigen versorgt werden sollen. Hierbei wird jedoch übersehen, dass zahlreiche Gründe dagegensprechen: die Familiensituation, die Berufstätigkeit der Angehörigen, eventuelle Krankheiten, die auch Angehörige haben können, die Wohnsituation etc. Heutzutage leben nun einmal nicht mehr drei Generationen unter einem Dach, und vor allem sollte eines klar sein: Professionelle Pflege hat eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung, die nicht einfach mal so von Angehörigen übernommen werden kann.

In der Akutpflege arbeiten überwiegend DGKP, während gerade dort, wo Menschen sehr krank und vulnerabel sind, überwiegend mit Assistenzpersonal wie Pflegeassistent:innen (PA) und Pflegefachassistent:innen (PFA), Fachsozialbetreuer:innen (FSB) und Hilfspersonal wie Heimhilfen (HH) gearbeitet wird. Der Personalschlüssel und auch der Skill & Grade Mix passen schon lange nicht mehr zur heutigen Realität. Gerade alte und kranke Menschen brauchen professionell tätige Pflegepersonen und nicht Assistenzpersonal. Das hat man leider hierzulande immer noch nicht verstanden.

„Die Ressourcen eines Menschen bestimmen die Notwendigkeit einer Langzeitpflege, nicht die medizinische Diagnose.“

In welchem Setting wird Langzeitpflege durchgeführt?

Geyrhofer: In Österreich ist die Langzeitpflege zum einen durch den sehr teuren stationären Bereich organisiert, zum anderen sind es immer noch die Angehörigen, die die Pflege übernehmen, für die sie nicht adäquat ausgebildet wurden. Auch muss hier die emotionale tionale Situation bzw. Abhängigkeit berücksichtigt werden. Nicht alle Familien haben eine heile Welt, und nicht in allen Familien herrscht Harmonie. Außerdem sind die pflegenden Angehörigen ebenso eine sehr teure Variante, die sich Österreich da leistet. Angehörige sind potenzielle Arbeitskräfte, die am Arbeitsmarkt in allen Branchen fehlen, zudem werden sie durch die Übernahme einer Tätigkeit, für die sie nicht geeignet sind, selbst chronisch krank. Zumeist bekommen sie chronische Schmerzen im Bewegungsapparat, aber auch psychosoziale Krankheiten wie Burnout oder Depression können entstehen. Das ist natürlich aus volkswirtschaftlicher Sicht eine finanzielle Katastrophe.

Der ambulante bzw. extramurale Bereich ist in Österreich nicht in dem Ausmaß ausgebaut, wie das zum Beispiel in den skandinavischen Ländern seit Jahrzehnten vorhanden ist. Das führt dazu, dass pflegebedürftige Menschen oft Wochen bis Monate im Akutspital versorgt werden, auch das kostet viel Geld, denn ein Bett im Akutspital ist ebenfalls sehr teuer. Zudem können Menschen mit Akutkrankheiten nicht aufgenommen werden, weil pflegebedürfte Menschen die Betten besetzen – ein Teufelskreislauf. Demgegenüber ist die mobile Hauskrankenpflege in Österreich unterversorgt.

Das Konzept der 24-Stunden-Betreuung ist aus mehrfacher Sicht abzulehnen. Menschen werden hier ohne gesetzlich verankertes Recht auf Ruhezeiten in eine Scheinselbständigkeit gezwungen. Hier werden Menschen regelrecht ausgebeutet. Ja, das darf man ruhig so nennen. Unabhängig davon werden auch die zu pflegenden Menschen unter Umständen der Gefahr ausgesetzt, fehlerhafte Pflege zu erhalten, da Betreuerinnen (hier muss man nicht gendern, da es fast ausschließlich Frauen sind), keine Pflegetätigkeiten übernehmen dürfen ohne vorherige Anordnung durch die DGKP. Das wird zu wenig kontrolliert und kann dazu führen, dass Schäden in der Pflege – zum Beispiel Wundliegen – entstehen. Darüber hinaus ist 24-Stunden-Betreuung teuer, das können sich in diesem Land nicht viele leisten. Außerdem braucht es den notwendigen Platz dafür, die Betreuer:innen benötigen schließlich ein eigenes Zimmer. Das ist nur was für reiche Menschen, die ein großes Haus haben. Ich habe auch ein Haus, aber ein eigenes Zimmer für die Betreuerin gibt es da nicht, meine Familie könnte sich so etwas nicht leisten. Die 24-Stunden-Betreuung macht in Österreich nur knapp 5 % der Versorgung in der Langzeitpflege aus. Ich hoffe, dass hier irgendwann die Politik aufwacht und erkennt, dass eine 24-Stunden-Betreuung nicht nötig ist und auch gefährlich sein kann.

Sie haben erwähnt, dass nicht nur ältere, sondern auch sehr viele jüngere Menschen auf eine professionelle Langzeitpflege angewiesen sind. Was sind denn die häufigsten Gründe, wieso Patient:innen eine Langzeitpflege benötigen?

Geyrhofer: Wie bereits erwähnt, ist nicht das Alter entscheidend, ob jemand eine Langzeitpflege benötigt. Das ist in diesem Land leider auch noch nicht ganz ins Bewusstsein durchgedrungen und führt immer noch dazu, das Ärzt:innen die Pflegegeldeinstufung machen, obwohl sie dafür keine Kompetenz besitzen. Ein Mensch mit multipler Sklerose sitzt nicht automatisch im Rollstuhl, im Gegenteil, er kann durchaus noch voll mobil und arbeitsfähig sein. Die Ressourcen eines Menschen bestimmen die Notwendigkeit einer Langzeitpflege, nicht die medizinische Diagnose. Deshalb sollten Pflegegeldeinstufungen ausschließlich durch DGKP erfolgen. Die häufigsten Gründe sind natürlich das Alter und vor allem eine demenzielle Erkrankung. Aber auch Menschen mit diversen Suchterkrankungen, hier am häufigsten Alkohol, können pflegebedürftig werden. Weiters spielen neurologische Erkrankungen eine große Rolle wie M. Parkinson, multiple Sklerose und amyotrophe Lateralsklerose. Auch Menschen nach Insult, Hirnblutungen oder Verkehrsunfällen können pflegebedürftig werden.

Es sind also durchaus 30-jährige Menschen in der Langzeitpflege. Weiters gibt es auch Kinder und Jugendliche, die in Betreuungseinrichtungen wohnen, wo Pflegekräfte die professionelle Betreuung übernehmen. Insgesamt gibt es aber von allen Langzeitpflegeplätzen erstens zu wenig, und zweitens wird hier viel mit Assistenz- und Unterstützungspersonal gearbeitet, zu wenig mit DGKP. Das Bewusstsein, dass Menschen, die abhängig sind, professionelle Pflegekräfte benötigen, ist in Österreich nicht sehr ausgeprägt. Wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass Pflege hierzulande Ländersache ist. Jedes Bundesland kocht sein eigenes Süppchen und niemand will die professionelle Pflege, auf die Menschen mit schweren Erkrankungen ein Recht haben, bezahlen. Ich sage ganz bewusst „will“, denn das Geld ist vorhanden, nur – wie wir ja schon seit Jahrzehnten wissen – falsch verteilt. Den Gesundheitsökonom:innen hört jedoch niemand zu. Leider auch den DGKP nicht, die ebenso seit Jahrzehnten eine professionelle Pflege für Menschen in der Langzeitpflege fordern. Hier braucht es vor allem DGKP mit Zusatzqualifikationen wie Psychiatrie, Neurologie aber auch Pain Nurses und vor allem einen anderen Personalschlüssel sowie einen anderen Skill & Grade Mix. Das bedeutet, mehr DGKP und weniger PA.

Erschienen in SCHMERZ NACHRICHTEN 4/2023