Thema des Monats

Konzept zur Klinischen Perspektiven Konferenz

Empfehlungen der ARGE Ethik der ÖGARI zur Vermeidung von Übertherapie

Zusammenfassung
Die Klinische Perspektiven Konferenz (KPK) ist wie das Advance Care Planning (ACP) ein ethisch reflektiertes Instrument zur Vermeidung von Übertherapie. Über eine realistische Nutzen‑/Schadenabwägung für die geplanten Intervention sollten alle involvierten Behandler:innen gemeinsam im Rahmen einer KPK ein realistisches Therapieziel definieren und daraus gemeinsam eine gesamtmedizinische Indikation ableiten. Besonders dort, wo ACP im präklinischen Setting noch nicht ausreichend stattgefunden hat, oder wenn eine fortgeschrittene Erkrankung erst im Krankenhaus evident wird, wäre eine als Vorsorgeinstrument flächendeckend in medizinischen Einrichtungen etablierte KPK ein sehr sinnvolles Instrument, um Hochrisikopatient:innen frühzeitig zu identifizieren, tragfähige Entscheidungen zu treffen, Übertherapie zu vermeiden und Ressourcen sinnvoll einzusetzen.

von Barbara Friesenecker (1), Astrid Steinwendtner (2), Sonja Fruhwald (3) und Helga Dier (4)

(1) Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck
(2) Universitätsklinik für Anästhesiologie, perioperative Medizin und Intensivmedizin, Salzburger Landeskliniken, Universitätklinikum Salzburg
(3) Klinische Abteilung für Herz-, Thorax-, Gefäßchirurgische Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Graz
(4) Klinische Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum St. Pölten

Vorbemerkung

Für die Erstellung des vor kurzem publizierten Papiers „Klinische Perspektiven Konferenz (KPK) – Vorsorgedialog im Krankenhaus – Konzept der AG Ethik der ÖGARI zur Vermeidung von Übertherapie“ haben Vertreter:innen der AG Ethik gemeinsam mit an ethischen Fragestellungen interessierten Fachkolleg:innen intensiv gearbeitet. Dieser Übersichtsartikel fasst auszugsweise wesentliche Aussagen des Papiers zusammen und verweist in den Details auf die Langversion, die auch entsprechende Literaturverweise beinhaltet (Infobox 1).

Einleitung

Im klinischen Alltag sind wir mit einer zunehmenden Anzahl an multimorbiden Patient:innen konfrontiert (Patient:innen mit hoher Gebrechlichkeit, hohem Alter, fortgeschrittener Demenz, Komorbiditäten aller Art, nach einem schweren Polytrauma – viele mit einer Kombination aus Genanntem). Ein beträchtlicher Teil wird übertherapiert – teilweise aus Angst vor medikolegalen Konsequenzen, aber auch durch ärztliche Übermotivation, Nicht-Anerkennung der Endlichkeit des Seins, Versagensgefühle oder schlichtweg Ignoranz. Oft erscheint es einfacher und zunächst auch zeitsparender, medizinische Maßnahmen einzuleiten, als erklären zu müssen, warum sie nicht indiziert sind. Es gibt noch zu wenig ärztliches Bewusstsein dafür, dass Übertherapie – beginnend bei der Durchführung nicht oder nicht mehr indizierter Maßnahmen bis hin zu einer medizinischen Handlung gegen den Willen einer:eines Patient:in – eine Körperverletzung darstellt und damit eine strafbare Handlung ist.

Grundlage jeder medizinischen Entscheidungsfindung sollte ein individuell zu definierendes, realistisches Therapieziel sein, aus dem sich die Indikation für eine technisch machbare medizinische Behandlung ableiten lässt.

Das Konzept der Klinischen Perspektiven Konferenz (KPK) wurde von der AG Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der ÖGARI erstmals 2019 vorgestellt. KPK ist – vergleichbar mit dem im niedergelassenen Bereich etablierten Advance Care Planning (ACP) – ein Instrument zur vorausschauenden Versorgungsplanung mit Fokus auf den innerklinischen Bereich. ACP und KPK sind also gleichermaßen Instrumente, die es durch eine vorausschauende Planung des Behandlungspfades möglich machen, Menschen am Lebensende und/oder in Notfallsituationen gemäß ihren Wünschen und Wertvorstellungen zu behandeln, vor allem dann, wenn sie diese nicht mehr äußern können.

Die KPK ermöglicht es, den klinischen Behandlungspfad vor allem für Hochrisikopatient:innen in medizinischen Einrichtungen klarer zu planen und ein für die Patient:in nutzbringendes Therapiekonzept anzubieten bzw. rechtzeitig eine Therapiezieländerung (TZÄ) in Richtung Palliation zu treffen. Sind mehrere Behandler:innen in die Behandlung einer:eines schwer erkrankten Patient:in involviert, sollte bei Hochrisikopatient:innen dem Aufklärungsgespräch eine KPK zur Klärung der medizinisch möglichen Optionen vorausgehen. Dabei sollte im Rahmen einer multidisziplinären, ärztlichen Teambesprechung – auch in Abstimmung mit der Pflege und etwaigen anderen Disziplinen (z. B. Physiotherapie, Psychologie) – das individuelle und realistische Therapieziel für eine Patient:in medizinisch definiert werden. Aus den zunächst nebeneinanderstehenden Einzelindikationen der involvierten Fachdisziplinen soll eine gesamtmedizinische Indikation abgeleitet werden, in der festgelegt ist, welche der zur Verfügung stehenden, prinzipiell wirksamen Therapieoptionen abhängig vom individuellen Therapieziel und entsprechend dem Patient:innenwillen angeboten bzw. nicht mehr angeboten werden.

Im Rahmen einer KPK müssen vor allem auch bei Hochrisikopatient:innen das Komplikationsmanagement (Blutung, Kammerflimmern/Herzkreislaufstillstand, allergischer Schock, Graft-versus-Host-Reaktion mit Multiorgandysfunktionssyndrom (MODS), Aplasie mit MODS, etc.) und die damit verbundene TZÄ besprochen werden, damit später nicht erst beim eintretenden Notfall unter Zeitdruck entschieden werden muss. Denn dies stellt für die involvierten medizinischen Fachkräfte erfahrungsgemäß eine besondere Belastung dar und führt häufig durch ein falsch verstandenes „in dubio pro vita“ dazu, dass Entscheidungen getroffen werden, die keinem individuellen Therapieziel folgen und auch oft nicht den Wünschen einer gut aufgeklärten Patient:in entsprechen.

ACP und KPK können ohne klare, unmissverständliche und nachvollziehbare schriftliche Dokumentation nicht funktionieren

Es besteht bei medizinischen Mitarbeiter:innen immer noch Unsicherheit, ob man Informationen zur TZÄ in der Patient:innendokumentation bzw. auch in einem Arztbrief überhaupt verschriftlichen darf. Die schnittstellenübergreifende Weiterleitung von wichtigen Patient:inneninformationen – und das inkludiert selbstverständlich auch Information zur TZÄ – ist im Sinne des funktionierenden ACP/KPK unabdingbar. Daher ist es wichtig, alle Informationen im Rahmen des Vorsorgedialogs (ACP/KPK) verpflichtend schriftlich zu dokumentieren und an alle behandelnden Teams weiterzuleiten. ACP und KPK können ohne klare und nachvollziehbare schriftliche Dokumentation nicht funktionieren!

Tools zur Identifizierung von Hochrisikopatient:innen

Es kann eine große Herausforderung sein, das Mortalitätsrisiko, die Wahrscheinlichkeit des gewünschten Outcomes und das Rehabilitationspotenzial korrekt abzuwägen. Es ist daher sinnvoll, den Entscheidungen Scores zugrunde zu legen, die eine objektivere Betrachtung des Risikopotenzials einer:eines Patient:in ermöglichen, immer bedenkend, dass ein statistisch für ein Kollektiv ermitteltes Risiko die Mortalität für das einzelne Individuum nicht exakt voraussagen kann. Die Scores sollen daher auch explizit nicht dafür verwendet werden, endgültige Entscheidungen zu treffen, sie bieten aber eine Möglichkeit, Hochrisikopatient:innen zu identifizieren und damit ein objektivierbares Kriterium für die Einberufung einer KPK zu haben:

  • Der ADL-Score beurteilt die Fähigkeit einer Patient:in, mit den Herausforderungen des täglichen Lebens zurechtzukommen
  • Die Dalhousie Frailty Scale (DFS; Synonym CFS = Clinical Frailty Scale) beurteilt die Gebrechlichkeit einer Patient:in.
  • Der POS-POM-Score kann zur Risikoabwägung chirurgischer Patient:innen herangezogen werden. Er errechnet die postoperative Mortalitätswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von den Komorbiditäten und der Invasivität des chirurgischen Eingriffs.

Das Wissen um die medizinethischen und -rechtlichen Grundlagen sowie die Tools zu kennen, die es ermöglichen, Hochrisikopatient:innen zu identifizieren, ist Voraussetzung für eine patient:innenzentrierte, gerechte medizinische Entscheidungsfindung.

Klinische Ethikberatung

Klinische Ethikberatung (Synonyme: klinisches Ethik Komitee (KEK), Ethikboard, Ethikberatung, Ethikberatungsdienst) ist bereits in vielen Krankenhäusern Österreichs eingerichtet – es ergeht an dieser Stelle die ausdrückliche Empfehlung an alle Krankenhäuser, die noch kein KEK haben, zeitnahe ein multidisziplinäres KEK zur Unterstützung für anstehende ethisch herausfordernde medizinische Entscheidungen einzurichten. Die Mitglieder des KEK (je nach Fall: Ärzt:in (immer), Pflegeperson (immer), Jurist:in, Theolog:in, Philosoph:in, Sozialarbeiter:in, Physiotherapeut:in etc.) erarbeiten nach ausführlicher Befassung mit dem Fall und Beleuchtung des Problems aus unterschiedlichen Perspektiven einen Handlungsvorschlag und erstellen ein Beratungsprotokoll. Dem behandelnden ärztlichen Team, das die endgültige Entscheidungsverantwortung trägt, steht es frei, diesen Handlungsvorschlag anzunehmen oder sich anders zu entscheiden. Patient:innen und An- und Zugehörigen fällt es besonders in kritischen Lebenssituationen leichter, mit komplexen medizinischen Entscheidungen zurechtzukommen, wenn mehrere Fachleute aus unterschiedlichen Perspektiven den Fall beleuchtet haben. Dann ist das Unterlassen für alle Beteiligten oftmals besser auszuhalten, auch für das behandelnde medizinische Team.

Ein palliativer Behandlungsplan muss nach jeder Therapiezieländerung erstellt werden, der Wünsche und Wertvorstellungen einer:eines Patient:in kurz skizziert und Wohltun im Sinne einer ganzheitlichen Behandlung mit bestmöglicher Symptomlinderung für ein „gutes Leben am Ende des Lebens“ bzw. ein „Sterben in Würde“ im Rahmen einer Comfort Terminal Care (CTC) festlegt. Der mögliche „Schaden“, z. B. durch Nebenwirkungen oder belastende Therapien, darf nur in Kauf genommen werden, wenn bei einer indizierten und wahrscheinlich wirksamen Therapie der erwartete Nutzen (z. B. tumorfreies Leben zumindest für eine gewisse Zeit, Wiedererlangung der Selbstständigkeit nach einem neurochirurgischen Eingriff, etc.) das Ausmaß des möglichen Schadens mit großer Wahrscheinlichkeit übertrifft und die vorgesehene Behandlung verhältnismäßig erscheint. Wenn der Schaden mit großer Wahrscheinlichkeit größer als der erwartete Nutzen ist, muss eine Therapiezieländerung durchgeführt werden.

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Infobox 1: Therapiezieländerung braucht KLARHEIT in der Kommunikation

Beispielhafte Formulierungen für die schriftliche Dokumentation einer TZÄ in einem Arztbrief zur Transferierung von Patient:innen, die beliebig variierbar sind und situationsadäquat erweitert werden sollen:
Auf Grund der Schwere der Erkrankung …
bei weit fortgeschrittener Grunderkrankung ….
bei schlechter Prognose ‚quo ad rehabilitationem‘ …
bei infauster Prognose …
etc….

… wird bei erneuter bzw. weiterer Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Rahmen der Therapiezieländerung …
… eine Wiederaufnahme auf eine Intensivstation nicht empfohlen/abgelehnt und der Beginn einer Comfort Terminal Care zur Sterbebegleitung empfohlen
… eine Comfort Terminal Care im Rahmen der Sterbebegleitung auf der Normalstation/zuhause unter Beiziehung eines mobilen Palliativteams empfohlen
… die Hinzuziehung des Palliativ-Konsiliardienstes zur Festlegung des palliativen Behandlungsplans für eine bestmögliche Symptomlinderung empfohlen
… eine erneute Krankenhausaufnahme auf die Normalstation zur Durchführung einer Comfort Terminal Care im Rahmen der Sterbebegleitung empfohlen, sofern eine adäquate Symptomlinderung im niedergelassenen Bereich nicht möglich ist

Zusatz, wenn es z. B. keinen Palliativ Konsiliardienst gibt, kann bei Transfer von ICU auf Normalstation ergänzt werden:
… wir sind gerne bereit, bei der Einstellung/Anpassung der palliativen Therapie auf der Normalstation beratend zur Seite zu stehen …

Empfehlung:
Es ist wichtig, die Worte „Sterben“, „infaust“, „Therapiezieländerung“, „palliativ“, „Sterbebegleitung“, „Comfort Terminal Care“, „Symptomlinderung“ etc. im Text einzubauen, um die Ernsthaftigkeit einer End-of-Life-Situation bewusst zu machen. Um den „heißen Brei herumzureden“ ohne ein klares Wort zum „Sterben“ ausgesprochen zu haben, ist missverständlich. Gerade weil es beim Thema „end-of-life decisions“ viel emotionale Ablehnung und manchmal auch falsche Hoffnung gibt (auch auf ärztlicher Seite), ist Klarheit und Unmissverständlichkeit wichtig.

Fazit

Moderne Medizin soll Leiden nicht verlängern und Sterben nicht hinauszögern, daher müssen ihre überaus wirksamen Methoden gezielt eingesetzt und dieser Einsatz regelmäßig auf seine Wirksamkeit und den Nutzen für die Patient:innen überprüft werden. Advance Care Planning (ACP) und KPK sind Instrumente, mit deren Hilfe Übertherapie und deren negative Folgen besser vermieden werden können. Ärztliche Entscheidungsfindung wird durch die Definition einer gesamtmedizinischen Indikation, die sich aus einem vorher vom Team der Behandler:innen definierten, individuellen Therapieziel ableitet, und durch die Miteinbeziehung der Wünsche und Wertvorstellungen von Patient:innen treffsicherer, auch weil Informationen über Wünsche und Wertvorstellungen der Patient:innen zeitnäher verfügbar sind. Die KPK hat das Ziel, den Behandlungspfad für Hochrisikopatient:innen im innerklinischen Bereich festzulegen, wenn möglich Heilung zu erreichen, aber gegebenenfalls auch palliativmedizinisch zu begleiten, um bei schwerer Erkrankung sowohl ein gutes Leben am Ende des Lebens unter bestmöglicher Symptomlinderung sicherzustellen als auch ein Sterben in Würde – auch im Krankenhaus! – zuzulassen.

Stellen wir uns der Verantwortung, neben Wissenschaftlichkeit als Grundlage ärztlicher Entscheidungsfindung, Entscheidungen immer auch ethisch reflektiert und unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit zu treffen.

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Infobox 2:

Friesenecker B, Steinwendtner A, Fruhwald S, Dier H, et al. Klinische Perspektiven Konferenz –Vorsorgedialog im Krankenhaus – Konzept der AG Ethik der ÖGARI zur Vermeidung von Übertherapie. Anästhesie Nachr. 2025; https://doi.org/10.1007/s44179-025-00324-z.

Autor:innen:
Univ.-Prof. Dr. Barbara Friesenecker, Innsbruck (korrespondierende Autorin)
OÄ Dr. Astrid Steinwendtner, Salzburg
Univ.-Prof. Dr. Sonja Fruhwald, Graz
OÄ Dr. Helga Dier, St. Pölten

Außer den genannten Autor:innen waren folgende Expert:innen in die Erstellung dieses Papiers involviert (in alphabetischer Reihenfolge):

Dr. Christian Bodinger (Korneuburg); Dr. Markus Bruckner (Linz); Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder (Zams); Dr. Benjamin Hetzer (Innsbruck); Dr. Maria Luise Hoffmann (Baden); Univ.-Prof. Dr. Christoph Hörmann (St. Pölten); Univ.-Prof. Dr Janett Kreutziger (Innsbruck); Dr Andrea Lenhart-Orator (Wien); Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, MSc (Klagenfurt); Dr Edith Oberascher (Linz); Doz. Dr. Thomas Pernerstorfer (Linz); PD. Dr. Bettina Pfausler (Innsbruck); Dr. Irene Rauscher-Pötsch (Horn); Dr. Christian Roden (Ried); Mag. Birger Rudisch (Innsbruck); Assoc.-Prof. PD Dr Eva Schaden (Wien); Dr. Julia Sieber, PMME (Vöcklabruck); Dr. Barbara Sitter (Wien); Dr. Rainer Thell (Wien); Dr. Dietmar Weixler, MSc (Horn); PD. Dr. Michael Zink (St. Veit/Glan).

erschienen in ANÄSTHESIE NACHRICHTEN 4/2025

Hospital Ward: Friendly Head Nurse Connects Finger Heart Rate Monitor or Pulse Oximeter to Elderly Patient Wearing Oxygen Mask Resting in Bed. Nurse Does Patient Checkup After Successful Surgery
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