Schmerzprävention in der Langzeitpflege, Teil 2

Schmerz- und Nebenwirkungsmanagement ist Sache der Pflege

© Anna Rauchenberger

Im zweiten Teil dieses ausführlichen Interviews spricht Svetlana Geyrhofer, BA, DGKP, Pflegeexpertin im Schmerzmanagement und der Aromapflege, Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, über die Schmerzversorgung im Rahmen der Langzeitpflege (Teil 1 des Interviews können Sie hier nachlesen).

Miniserie Prävention
In dieser Miniserie setzen sich die SCHMERZ NACHRICHTEN mit dem Thema Prävention auseinander und befragt dazu Expert:innen unterschiedlicher Fachbereiche. Die Fragen stellt Mag. Christopher Waxenegger.


Welche Rolle spielt das Schmerzassessment in der Langzeitpflege und wie werden Schmerzen bei älteren und/oder dementen Patient:innen erfasst?

Geyrhofer: Hier darf ich auf meinen Artikel in der letzten Ausgabe der Schmerz Nachrichten „Schmerzassessment bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen“ verweisen [Schmerz Nachr 2023. 23:211–213]. Das Schmerzassessment wird als die Grundlage für ein fundiertes Schmerzmanagement in vielen Leitlinien beschrieben. Das kann jedoch nur mit DGKP erfolgen, wie in den vorigen Antworten schon gesagt, gibt es zu wenige DGKP in der Langzeitpflege, wodurch das Schmerzassessment auf der Strecke bleibt. Das wirkt sich natürlich in der Therapie aus.

Welche therapeutische Rolle übernimmt die Pflege als Berufsgruppe im Schmerz- und Nebenwirkungsmanagement?

Geyrhofer: Sowohl das Schmerzmanagement als auch das Nebenwirkungsmanagement sind Sache der Pflege. Die Pflege steuert mit ihrem professionellen Assessment die gesamte multimodale Schmerztherapie. Gerade in der Langzeitpflege sind oft keine Ärzt:innen zugegen, aber auch andere Gesundheitsberufe sind leider nicht vor Ort. Psycholog:innen gibt es in diesem Bereich gar nicht oder sehr selten. Physiotherapie kann hinzugezogen werden, ist jedoch oft eine Privatleistung. Den DGKP muss bewusst sein, wieviel Verantwortung sie hier übernehmen. Immer wieder höre ich, dass ja die Ärzteschaft über die Medikamente entscheidet. Jein. Sie können nur darüber entscheiden, wenn ein adäquates Schmerzassessment der DGKP vorliegt, auf das sie sich beziehen können. Wenn hier nicht die Differenzierung in nozizeptiver/neuropathischer Schmerz vorgenommen oder die Schmerzintensität ernst genommen wird, dann sind Fehltherapien vorprogrammiert. Wenn die DGKP der Meinung ist, der kranke Mensch jammert immer und er braucht nichts, dann bekommt er auch nichts. Ärzt:innen sind aufgrund ihrer Abwesenheit gar nicht in der Lage, gerade bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen die Schmerzsituation in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sie haben immer nur eine Momentaufnahme. Die DGKP erfasst den gesamten Verlauf unter Berücksichtigung der Biografie und der individuellen Bedürfnisse. Diese Verantwortung spiegelt sich immer noch nicht in der Praxis wider, und zwar dadurch, dass in so einem vulnerablem Bereich überwiegend Assistenzkräfte tätig sind. Das geht einfach nicht. Pflegeassessment und Pflegediagnostik ist Kernaufgabe der DGKP und kann nicht übertragen werden. Fehlt das, kann keine adäquate multimodale Schmerztherapie eingeleitet werden.

Multimodal bedeutet auch, dass die DGKP ihre pflegetherapeutischen Maßnahmen gesetzlich verpflichtend umsetzen müssen. Auch hier fehlt es an viel Wissen und an den strukturellen und personellen Rahmenbedingungen. Das Nebenwirkungsmanagement gehört verpflichtend mitgeplant und die Betroffenen, die langfristig Schmerzmedikamente erhalten, müssen von der DGKP hinsichtlich der Prävention von Nebenwirkungen beraten werden. Hierzu zählen die Obstipationsprophylaxe, Sturzprophylaxe, aber auch gute Haut- und Schleimhautpflege, da viele Medikamente, die gegen Schmerzen eingesetzt werden, Juckreiz auf der Haut und eine trockene Mundschleimhaut verursachen können. Gerade die trockene Vaginalschleimhaut bei Frauen kann wieder empfänglich für Bakterien sein, diese löst dann im schlimmsten Fall einen Harnwegsinfekt aus, der wieder Schmerzen verursacht. Nach § 12 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz tragen wir hier zur Behandlungskontinuität bei, das bedeutet, Medikamente werden bei weniger Nebenwirkungen auch seltener von den Betroffenen selbst abgesetzt. Wir dürfen behandeln, da wir gesetzlich verankert auch kurativ tätig sind. Das GuKG hat uns zu einer therapeutischen Berufsgruppe gemacht, viele DGKP fühlen sich in ihrer alten Rolle als Assistenzkraft, wie es vor 1997 war, wohl und vernachlässigen ihre derzeit gültigen gesetzlichen Verpflichtungen. Dazu  gehört die komplementäre Pflege, die Gesundheitsförderung, die Beratung und das Arbeiten nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ich hoffe, dass sich durch die Akademisierung das Bewusstsein in unserer professionellen Berufsgruppe verändert, Österreich hat hier viel zu spät damit begonnen, es wird also noch einige Jahre dauern, bis sich das in der Praxis widerspiegelt.

„Wir haben kein Ausbildungsproblem, sondern ein Anstellungsproblem.“

Für die Langzeitpflege besonders relevant ist, dass DGKP im Rahmen der Medikationskompetenz neben Ärzt:innen die weitreichendsten Möglichkeiten zur Verabreichung von Medikamenten haben. Ärzt:innen können diese Tätigkeit an DGKP übertragen. Was gilt es hier, sowohl von ärztlicher als auch von pflegerischer Seite, zu beachten?

Geyrhofer: Eine langjährige Forderung unseres Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV) ist, das DGKP mit Spezialisierung „Schmerzmanagement“ Schmerzmedikamente unter bestimmten Vorgaben selbst verschreiben und auch die Dosierung adaptieren können. Ebenso ist es eine langjährige Forderung, dass auch die von Bundesminister Rauch geforderte Wirkstoffverordnung endlich kommt. Weiters muss die digitale Verschreibung zur Gänze implementiert werden. Pflegekolleg:innen in der Langzeitpflege berichten mir immer wieder, dass sie wöchentlich mit den gesammelten E-Cards in die Apotheke pilgern müssen, weil diese gesteckt werden muss. Das ist wirklich nicht die Aufgabe einer DGKP und ehrlich gesagt Ressourcenverschwendung. Handelsnamen ändern sich beinahe wöchentlich, immer wieder sind Medikamente nicht lieferbar. DGKP machen mit den Apotheken jetzt schon aus, was dann stattdessen verabreicht werden kann. Derzeit ist das eigentlich illegal, aber was soll man machen, wenn Bewohner:innen eines Pflegeheims oder Klient:innen in der mobilen Hauskrankenpflege das Medikament benötigen, Hausärzt:innen jedoch nur 20 Stunden in der Woche verfügbar sind? Da kann man nicht auf eine neuerliche Verordnung warten, das kann zur Unterversorgung führen.

Auch die Adaptierung der Medikamente auf die jeweilige Situation der Patient:innen muss legal möglich sein, z. B. die Dosierung der Schmerzmittel. Derzeit steht in der Verordnung der Ärzteschaft „Gabe eines Schmerzmittels bei Bedarf“. Diese Verordnung ist gesetzlich falsch. Es gibt keinen „Bedarf, sondern den „Einzelfall“. Auch muss klar vorgeschrieben sein, welche Schmerzen gemeint sind. Ebenso die Dosierung. Diese kann allerdings manchmal zu hoch oder zu niedrig sein. DGKP dürfen derzeit die Verordnung nicht adaptieren, obwohl sie für die klinische Einschätzung des Einzelfalls zuständig sind. Das muss dringend geändert und die Kompetenzen der DGKP hierbei hinsichtlich der Verordnung erweitert werden. Weiters sind in einigen Bundesländern in der Nacht nicht mal DGKP vor Ort anwesend. PA sind jedoch nicht berechtigt, eine Einzelfallgabe zu entscheiden, das muss die DGKP einschätzen. Wenn PA allein im Nachtdienst sind, fehlt also die Fachaufsicht. Ich plädiere dafür, dass die bundesgesetzlichen Grundlagen von allen Verantwortlichen in diesem Land eingehalten werden müssen.

Auf welche Methoden bzw. Verfahren greift die Pflege, auch abseits von Medikamenten, zurück, um die Schmerzintensität positiv zu beeinflussen?

Geyrhofer: Gut, dass Sie fragen. Mit 16. Oktober 2023 startete wieder unsere Weiterbildung „Komplementäre Pflege“. Die Ausbildung umfasst insgesamt 172 Stunden und beinhaltet sämtliche pflegetherapeutischen Interventionen, die DGKP weisungsfrei bzw. komplementär mit den Ärzt:innen gemeinsam durchführen können. Die wichtigsten Verfahren sind Wickel und Kompressen, Aromapflege und der Einsatz von Pflanzenheilkunde in Form von Tees und Ernährung. Aber auch Gesprächsführung und Beratung sind weitere wichtige Kompetenzen der DGKP.

DGKP sind vor allem im Bereich der Prävention und Ressourcenförderung tätig. Viele Prophylaxen sind bekannt, wie die Sturzprophylaxe oder die Obstipationsprophylaxe. Wir können jedoch noch viel mehr. DGKP wenden Pulswickel bei Fieber an, ein Fußbad bei Harnwegsinfekten, ein Virenschreck-Brot (Butterbrot mit Thymian, Honig und Knoblauch nach einem Rezept von DGKP Ursel Bühring) als Virenschutzprophylaxe, Bienenwachskompressen bei nächtlichem Husten, temperierte Ölkompressen gegen Angst und als Schlafförderung, Malvenblütentee gegen Halsschmerzen (nicht Salbei!), atemunterstützende Einreibungen bei Erkältungen, Kneippsche Schlafstrümpfe bei Restless Legs und vieles mehr.


Wickel (links) und atemunterstützende Einreibungen (Mitte) sind wichtige Methoden in der Ausbildung zur „Komplementären Pflege“, ein „Virenschreck-Brot“ (Butterbrot mit Thymian, Honig und Knoblauch) dient der Virenschutzprophylaxe


Die Liste der Möglichkeiten, die wir haben, ist sehr lang. Unsere Weiterbildung „Komplementäre Pflege“ ist in verschiedenen Themen aufgeteilt und umfasst in Summe fünf Module und ein Praktikumsmodul zu je drei Tagen. In Modul I haben wir die allgemeinen Grundlagen besprochen und ein wichtiges Thema bearbeitet: Schlaf. Gerade Schmerzpatient:innen schlafen nicht gut, hier sind unsere Maßnahmen eine wertvolle Unterstützung, damit es durch eine verbesserte Schlafsituation auch zu einer veränderten – im besten Fall zu einer verbesserten – Schmerzsituation kommt. Nicht immer braucht es sofort ein Schlafmittel, vor allem, weil diese ja auch Nebenwirkungen haben. So kann es zu vermehrter Müdigkeit am Morgen kommen, wodurch sich wieder der Pflegealltag verändert. Dann müssen zunächst aktivierende Maßnahmen durchgeführt werden, bevor mit der Mobilisierung begonnen werden kann.

Welchen Herausforderungen sieht sich die Langzeitpflege zurzeit gegenüber?

Geyrhofer: Die strukturellen und personellen Herausforderungen und vermeintlich gute Ideen wie die Pflegelehre sind derzeit ganz aktuell. Der Personalschlüssel ist nicht mehr zeitgemäß, die Qualifikation der Pflegekräfte muss entsprechend der schweren Erkrankungen angepasst werden. Es reicht nicht mehr, ausschließlich mit Assistenzpersonal zu arbeiten. Die Kernkompetenzen der DGKP gehören erweitert, ärztliche Ansprechpartner:innen müssen rund um die Uhr für die DGKP zur Verfügung stehen. Die hohe Verantwortung, die alle Pflegekräfte tragen, muss sich in der Entlohnung wiederfinden. Bessere Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen endlich oberste Priorität sein.  Hierarchische Strukturen gehören abgebaut. Und ganz wichtig: Auch wenn wir Pflegekolleg:innen aus anderen Ländern nach Österreich holen, wenn die Sprachkompetenz nicht vorhanden ist, erhöht sich der Arbeitsaufwand der DGKP im Endeffekt erst wieder. Es ist absurd zu glauben, wenn genug Köpfe im System sind, dann ist alles wieder gut. Auf die Qualifikation und die Sprachkenntnisse kann nicht verzichtet werden. Auch die derzeit anlaufende Pflegelehre war keine gute Idee. Lehrlinge dürfen nicht mit kranken Menschen bis zum vollendeten 17. Lebensjahr in Berührung kommen. Sie dürfen also nicht mit Menschen mit Demenz Karten spielen, so wie es unlängst in einem Radiointerview geschildert wurde. Niemand weiß so richtig, was jetzt mit den Pflegelehrlingen passieren soll, die ja gerade in der Langzeitpflege angestellt werden. Was sollen sie in den ersten zwei Lehrjahren machen? Darauf gibt es immer noch keine Antwort. Nicht jede Idee verbessert die Situation der Pflegekolleg:innen in der Praxis.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Wo sehen Sie die Langzeitpflege in zehn Jahren?

Geyrhofer: Ich bin eine unverbesserliche Optimistin. Ich hoffe immer noch, dass es in diesem Land irgendwann Politiker:innen gibt, die sich ihrer Verantwortung gegenüber alten und kranken Menschen und auch der Pflegekräften in diesem Land bewusst werden, die die Langzeitpflege im extramuralen Bereich ausbauen, die Qualifikationen erhöhen und mehr DGKP für diesen Bereich einsetzen. Weiters müssen bundesweit einheitliche Kriterien für die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen geschaffen werden. Niemand sieht in diesem Land ein, warum die Versorgung der Menschen in Oberösterreich anders ist als in Wien, Vorarlberg oder Kärnten. Das kann wirklich nicht sein. Pflege muss zur Bundessache werden, der Föderalismus ist gerade bei diesem Thema hinderlich, wenn es um Reformen geht. Eine Pflegereform ist im Föderalismus zum Scheitern verurteilt, da können noch so viele Reformen angedacht werden, sie werden nicht gelingen. Zu guter Letzt möchte ich noch mit einem Mythos aufräumen: Wir haben genug ausgebildete DGKP! Sie werden nur nicht eingesetzt bzw. sind oft in der Akutpflege tätig, sollten jedoch verstärkt in der Langzeitpflege angestellt werden. Wir haben kein Ausbildungsproblem, sondern ein Anstellungsproblem.

Die Prävention muss einen hohen Stellenwert in diesem Land bekommen. Bereits im Kindesalter sollte durch Bewegung und Ernährung die Gesundheitsförderung unterstützt werden. Wir müssen länger gesund bleiben, das ist das Einzige, was wir uns in Zukunft leisten werden können. Es braucht nicht mehr Pflegeplätze, es braucht mehr gesunde Menschen! Die skandinavischen Länder machen es uns vor. Menschen, die dort leben, sind bei gleicher Lebenserwartung durchschnittlich zehn Jahre länger gesund. Die Pflegelehre muss alsbald wieder abgeschafft werden.

Die Pflegegeldeinstufung gehört ebenso dringend reformiert. Erstens muss das ausschließlich von den DGKP durchgeführt, zweitens die Einstufung überdacht werden. Es kann nicht sein, dass ein Mensch ins Bett gepflegt wird, damit er mehr Geld bekommt. Ressourcenförderung ist eine Kernkompetenz der DGKP, diese wird vereitelt, weil ein Mensch, der mehr Ressourcen hat und eigenständiger ist, weniger Pflegegeld bezieht. Das ist krank. Physikalische Therapie und Bewegung sind hinderlich bei der Pflegegeldeinstufung. Hier sollten wir wirklich einmal nachdenken, was wir eigentlich tun. Meine Schwiegermutter, die unlängst verstorben ist, hat im Pflegeheim immer einen Rollator stehen gehabt, damit bei einer Kontrolle der Pflegegeldeinstufung das Bild entsteht, sie sei nur mit Rollator mobil. Dabei konnte sie lange Zeit ohne Hilfsmittel gehen. Das ist kein Einzelfall! Und letztlich muss auch klar sein, dass Krankheiten, die zwar zu einer kognitiven, nicht aber zu einer körperlichen Verschlechterung führen, oft mehr Pflegeaufwand bedeuten, als wenn ein Mensch durch körperliche Beeinträchtigung im Bett liegt.

Wir haben viel zu tun. Selbst bei meinem unverbesserlichen Optimismus weiß ich nicht, ob sich das in zehn Jahren ausgeht. Aber wie sagt Aragorn in „Herr der Ringe“ unmittelbar vor einer bevorstehenden Schlacht: „Hoffnung gibt es immer.“

Erschienen in SCHMERZ NACHRICHTEN 1/2024